Texte, Photos, Vortrags- und Seminarankündigungen
Unredigierte Schriften
Taoismus





„Es handelt sich um eine ganze Welt und eine vollständige Geschichte des Menschen, die gesamte Geschichte des Menschen in der Welt und seinem Wunsch nach Transzendenz. Es ist dies eine Geschichte, die im Verlauf der Jahrhunderte eine immergleiche Identität beibehält. Durch alle ihre Verwandlungen hindurch bewahrt, ermöglicht es diese dauerhafte Identität dem Taoismus, ich in unterschiedlichen Schichten beständig zu erneuern, in denen die sich fortsetzenden oder wiederauftauchenden Grundzüge erkennbar sind. Sein synkretistisches Wesen, seine vielfältigen Facetten widersetzen in keiner Weise der Einheit seiner Inspiration und einer Kontinuität, die der Leser durch all seine Wandlungen mühelos verfolgen konnte. (...) Vielleicht weil er sich in Bezug auf die Machtverhältnisse, die eine Gesellschaft strukturieren, in einer schwachen Position fand, ist der Taoismus die einzige unter den „Drei Lehren“ (Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Anm. H.L.), die ganz offen Teile gegensätzlicher Strömungen assimiliert und einen Dialog mit ihnen geführt hat. Er zitiert sie, übernimmt aus ihnen Begriffe, Ideen, die er bearbeitet, zuweilen umformt und assimiliert. Er bereichert sich an ihnen, wächst und geht über sich selbst hinaus, ohne freilich jeweils seine kosmologische Weltsicht aufzugeben oder sein Ziel zu vergessen: den Menschen zu verfeinern und ihn nicht aufzugeben.“
(Robinet: Die Geschichte des Taoismus, Diederichs, München 1995, S. 363)  

Einleitung 

Das Fischnetz ist da, um Fische zu fangen. Wir wollen die Fische behalten und das Netz vergessen. Die Schlinge ist da, um Kaninchen zu fangen. Wir wollen die Kaninchen behalten und die Schlinge vergessen.

Worte sind da, um Gedanken zu vermitteln.
Wir wollen die Gedanken behalten und die Worte vergessen.
Oh welch ein Vergnügen mit einem Menschen zu sprechen, der die Worte vergessen hat.

(Chuang Dzu, 14.Kap.)      

Das Tor vor dem Leben und nach dem Tod – Tai Ji Men    

Begegnung mit dem Stammhalter einer unbekannten Tradition: Die Entfaltung von Selbstheilungskräften im menschlichem Körper in der Tai Ji Men Tradition des Taoismus.  

"Es gibt in diesem System nur eine Regel: es gibt keine Regel"

(Der Übersetzer Jia Zhiping während des ersten Wochenendes)   Ich werde im Folgenden über etwas zu schreiben versuchen, dessen Erfahrung nicht i+n Worte zu fassen ist. Und doch erscheint mir dieser Bericht notwendig, um die Begegnung mit einer der ältesten Chinesisch - taoistischen Traditionen in den europäischen Raum zu vermitteln. Ich befinde mich mit diesem unmöglichem Versuch in guter Übereinstimmung mit der Übermittlung der alten Chinesischen Naturphilosophie - schon P o Chü-i, - der berühmte Dichter der Tang Zeit - gab einen humorvollen Kommentar zum Taoteking:  

Jene, die reden, wissen nicht,
Jene, die wissen, reden nicht.
Das erklärt uns schon Laotse.
Sollen wir glauben, dass er selbst
einer war, der wusste;
Wie kann es dann sein, dass er schrieb
nicht weniger als fünfmal tausend Worte ?  

(zitiert nach: Chang Chung-yuan, Tao, Zen und schöpferische Kraft, Diederichs gelbe Reihe, Köln 1983)  

Prof. Lu Jinchuan redet wenig. Er ist Arzt, Professor für Traditionelle Chinesische Medizin und für Kalligraphie in Peking; darüber hinaus Autor von bisher 19 Gundlagenwerken zur Medizin und Philosophie. Und Stammhalter der höchsten philosophischen Schule des Taoismus: Tai Ji Men. Im April dieses Jahres waren er und erfahrene Schüler aus Kanada und England zu zahlreichen Fachtagungen, Patientenvorstellungen und Einführungsseminaren nach Deutschland eingeladen.

Mai 1998 : das erste Seminar – Chi Dao Eins  

Die Veranstaltung begann fast eine Stunde zu spät; vorher sollten aufgrund einer wissenschaftlichen Auswertung der psychophysischen Befindlichkeiten vor (und später nach) dem Seminar umfangreiche Fragebögen ausgefüllt werden.
Die Organisation wirkte chaotisch; es wurden keinerlei Erklärungen für die Verspätung gegeben. Als dann mehrere Chinesen nach über einer Stunde den Raum betraten, begann eine schwer verständliche, auch kaum akustisch wahrzunehmende Übersetzung durch einen in Berlin lebenden Schüler. Der aus China stammende Dolmetscher Jia Zhiping musste häufig in der Landessprache beim Vortragenden nachfragen, wie er einzelne Bedeutungsinhalte der Chinesischen Philosophie und derer verschiedener Schulen dem deutschsprachigem Publikum darlegen sollte. Unmut kam im Saal auf und einzelne Teilnehmer verließen die Veranstaltung. Auch ich wäre in einer mir völlig fremden Veranstaltung aufgrund der unerträglichen Rahmenbedingungen gegangen, wenn nicht die Erscheinung und die Stimme eben dieses Mannes im Raum gewesen wäre, dessen Wissen scheinbar durch die Übersetzung an diesem Abend nicht vermittelbar war (es sollte besser werden und Jia Zhiping aufgrund seiner ernsten und humorvollen Art der Vermittlung sogar den meisten Applaus bei den folgenden Seminaren bekommen). Doch etwas anderes sollte sich noch ereignen: Nach ungefähr zwei Stunden kaum zu bewältigender theoretischer Abhandlung über philosophische und traditionelle Sachverhalte kam die unvermittelte Aufforderung an die Zuhörer, die Stühle beiseite zu schieben und sich einfach entspannt mit geschlossenen Augen hinzustellen. Innerhalb weniger Sekunden begann sich mein Oberkörper derart nach hinten zu bewegen, dass ich Angst um meine Bandscheiben bekam, dann nach vorne, bis meine Finger den Boden berührten. Fast gleichzeitig wurden meine Arme von etwas erfasst und begannen mit der vor- und rückwärtigen Bewegung des Körpers zuerst zu schwingen, dann zu rotieren. Ich versuchte mich dieser autonomen Bewegung ganz hinzugeben während ich mit geschlossenen Augen wahrnahm, dass einzelne Anwesende Schreie ausstoßend herumliefen und offensichtlich mehrere auf den Boden stürzten. Nach einigen Minuten - ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass diese Übung eine Stunde dauern sollte - bekam ich einen Stoß in den Rücken und öffnete vor Überraschung die Augen: ein anderer Teilnehmer war in diesen spontanen Bewegungen gegen mich gelaufen. Für einen kurzen Moment sah ich mich um : der Raum war voller in Schwingung geratener Menschen: einige bewegten sich ähnlich wie ich zuvor, andere zeigten die mir bekannte Äußerungsform der Aktivierung des kleinen Kreislaufs der Sondermeridiane (Diener- und Lenkergefäß), andere krochen autonom auf dem Boden herum oder schlugen wie in Hypnose befindlich mit dem Kopf gegen die Wände des Tagungsraums. Und überall Schüler und Assistenten, die  Teilnehmer vor Schaden bewahrten. Ich begann mich wieder in die entspannte Position zu begeben und schloss die Augen; sofort begannen ähnlich mächtige Bewegungen wie zuvor. Nach einer unendlich erscheinenden Stunde hörte ich die Anweisung zum Öffnen der Augen. Es gab eine kurze Erläuterung, der in diesem Zustand wohl kaum jemand folgen konnte und die Freitagabendveranstaltung war beendet. Innerhalb einiger Momente waren die Chinesen verschwunden - zurück blieb ein überwiegend fassungsloses Publikum. Fast alle waren am nächsten und übernächsten Tag wieder dabei. Die Übersetzung und die Akustik wurden besser, an Stelle von Prof Lu Jinchuan sprach überwiegend Tom Zhang, ein Schüler aus Kanada und versuchte einige Anhaltspunkte über das Geschehen zu vermitteln. Jeweils zweimal am Sonnabend und am Sonntag standen wir wieder für ungefähr eine Stunde mit geschlossenen Augen; kurz nach dem Einnehmen der Position vernahm ich ein Zischen und sofort gingen gewaltige spontane Bewegungen durch, mit meinem Körper. Am dritten Tag wurde für gewillte und nach Untersuchungen für geeignet befundenen Teilnehmer der "Zhongzhe" gegeben, d.h. eine Übertragung eines - in gegenwärtiger Sprache - "Programms" in Form von Chi auf den Schüler durch den Stammhalter dieser alten Tradition. Bei weitem nicht allen, die diese persönliche Übertragung erfahren wollten, wurde aufgrund medizinischer Gründe dieses gewährt. Nachdem ich die Erfahrung dieser Übertragung durchlaufen hatte (währenddessen mir nichts Besonderes wahrnehmbar war), erlaubte mir Tom Zhang die Augen geöffnet zu behalten und das Geschehen im Raum zu beobachten. Was ich dort sehen konnte, werde ich möglicherweise nie in meinem Leben vergessen. In großer Demut und Achtung vor den mit geschlossenen Augen in den spontanen Bewegungen befindlichen Teilnehmern behandelten die anwesenden Meisterschüler fast jeden Menschen mit den Methoden der Chi - Medizin, um eine Weiterentwicklung und Öffnung der Meriansysteme bei ihnen zu ermöglichen. Das also geschah, wenn wir die Augen geschlossen hatten... Bei einigen, die ich persönlich und als Arzt mit ihrer körperlichen Problematik kannte, sah ich exakt die auf räumliche Distanz erfolgende Behandlung derjenigen Organe und Segmente, die eventuell eine Weiterentwicklung zu höheren Stufen verunmöglichen würden. Zum Ende des Seminars hatte über die Hälfte der Anwesenden die Übertragung bekommen. Wieder verschwanden die Chinesischen Gäste in Windeseile.  

Kurze Zeit danach  

Zwei Tage nach dem Seminar stellte ich mich in meinen eigenen Räumen in die entspannte Haltung und schloss die Augen: innerhalb von Sekunden begannen die spontanen Bewegungen mit noch höherer Intensität als zuvor. Das also war die Wirkung des Rituals - ohne die erfolgte Übertragung war alleiniges Üben aufgrund der körperlichen Gefährdung nicht erlaubt. Die hohe Energie, die mich nun erfasste, machte mir diese Regelung einsichtig.

Beginn einer Ausbildung  

Etwa eine Woche später wurde ich von der Veranstalterin gefragt, ob ich mit einigen anderen von Prof Lu Jinchuan ausgesuchten Teilnehmern des ersten Seminars in eine Art Privatausbildung zu einer Art Helfer für das kommende (unserem Seminar entsprechendem) Einführungswochenende eintreten würde - ohne anfallende Kosten. Überrascht und freudig stimmte ich zu. Was sechs Mitteleuropäern durch fünf Chinesen in den folgenden zwei Wochen als Selbsterfahrung der Chi - Energie vermittelt wurde, lässt sich nicht mehr beschreiben. Zum Beispiel stand – schwebte – ich stundenlang nur auf meinen großen Zehen, Lu Jinchuan mir gegenüber auf einem Schaukelstuhl lachend vor mir sitzend, zischend. Manches Mal brach ich danach zitternd zusammen und ein seltsames, magnetisches Feld zog mich vom Boden auf in die vorherige Position. Nie zuvor hatte ich ein derartiges antigravitatives Energiefeld erfahren – dies in manchen Schriften für reine Phantasie gehalten. Hier offenbarte sich eine fundamentale Wirklichkeit einer aus subtilen Energien bestehender Welt. Nach anderthalb Wochen wurden wir einer stundenlangen Prüfung im Aussenden und Zurückholen von Chi unterzogen - wir fielen geschlossen durch. Eine Woche später erhöhte Prof. Lu Jinchuan mit einer Chi - Übertragung uns allen die Hände und wir bestanden die Prüfung - drei Tage später waren wir nun elf Assistenten und 32 Teilnehmer bei dem zweitem Chi Dao 1- Seminar. Wir konnten auf große räumliche Distanzen eine ähnliche Hilfe und Unterstützung leisten, wie ich es im ersten Seminar mit Erstaunen und Achtung gesehen hatte. Die Veranstalter hatten den Ablauf geändert und es wurde ein hochintensives, dabei aber inhaltvolles und harmonisches Wochenende. Fast alle Teilnehmer, die die Übertragung wünschten, konnten diese nach sorgfältiger Überprüfung bekommen. Freudig sagte mir einer der Assistenten, dieses Mal wäre es, als seien sie in China.  

"Shi Fang Wu Ji Dang (spontane Bewegungen in einem besonderem Zustand) oder die Praxis von Wu wei sind die Hauptmethode der Selbstbehandlung in der Chi Dao Medizin. Nach vollständiger, durchgehender Entspannung werden die Selbstheilungskräfte der Patienten wieder aktiviert, so dass diese Krankheiten sich selbst ausheilen lassen können. Diese Methode kann einen sehr großen Bereich von Erkrankungen heilen. Insgesamt betrachtet, beeinflusst sie jede menschliche Krankheit. Die entscheidenden Faktoren sind erstens der Grad der Entspannung, die ein Patient erreichen kann und der Schweregrad der Erkrankung."
(Tom Zhang und Carol Yeung, "Tue Science of Chi Dao Medicine", erscheint im Januar 1999 in: Heiko Lassek (Hrsg.), "Wissenschaft des Lebendigen", Verlag Simon und Leutner, Berlin)   

Ausflüge  

Zwischen den Wochenenden hielt Prof. Lu Jinchuan Vorträge auf Kongressen und sprach in Krankenhäusern über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen westlicher, traditionell chinesischer und Chi Dao Medizin; die ersten Fotokopien der Manuskripte hierzu wurden verteilt. Es war alles eine Pionierarbeit einer kleinen Gruppe interessierter Menschen, denen ich mich mit einigen Freunden angeschlossen hatte. Zweimal fuhr ich mit den Gästen zu den Gärten von Sanszoussi, dem Charlottenburger Schloss und dem ägyptischen Museum. Ich lernte hoch gebildete Menschen kennen, die mehr über viele Aspekte der deutschen Geschichte wussten als ich. Zumeist sprachen wir während dieser Ausflüge über Heidegger, Hegel, Reich, die Philosophie der Romantik, über europäische Kunst und Kultur und ich war fassungslos über ihr Detailwissen.
Auch über den Chinesisch-tibetanischen, seit Jahrhunderten bestehenden Konflikt, den jetzigen Dalai Lama und ihrer Einschätzung der gegenwärtigen Umwälzungen in China bekam ich Informationen, die den Mitteilungen der westlichen Medien eine andere Färbung hinzufügten. Fast immer ging ich mit seinen Schülern Tom Zhang, Carol Yeung und ihrem Vater vertieft in Gespräche durch die Schlossgärten, Prof. Lu Yin Chuan (von ihnen "teacher" benannt) ging neugierig interessiert mit einer kleinen Videokamera auf fast jedes Gemälde und jede Skulptur zu, verweilte und filmte viele Objekte, um dann uns wieder einzuholen.
Die umfassende Kenntnis von Naturphilosophie aller Menschheitskulturen ist eine der bedeutendsten Grundlagen zur Erlernung der Chi Dao Medizin ließ er mir durch Tom Zhang mitteilen; ansonsten sprachen wir kaum miteinander. "Um die Früchte zu erkennen, achte auf die Wurzel. Studiere die Vergangenheit, um die Zukunft zu erkennen." Lieh Tzu  

Juni 1998: das zweite Seminar - Chi Dao 2  

Wieder einmal hatte sich die Organisation verbessert und der Ablauf geschah trotz der Sprachbarrieren immer reibungsloser. Ich hatte inzwischen erfahren, dass derartige Seminare in der Komprimierung auf zweieinhalb Tage auch für die Chinesen ein Novum darstellten und sie sich auf die westlichen Arbeitstage und Wochenenden eingelassen hatten. Der Inhalt der ersten zwei oder drei Seminare wird in China in achtzehn aufeinander folgenden Nächten durch Prof Lu Jinchuan vermittelt - alle Teilnehmer nehmen sich dann für diese Zeitspanne Urlaub.

"Wie können wir das Chi erfühlen?

Wir können es ähnlich wie die Luft erfühlen. Normalerweise, wenn die Luft unbewegt ist, nehmen wir ihre Existenz nicht wahr - aber wenn die Luft sich bewegt, ist es die Brise oder der Wind, den wir erfühlen. Das Selbe kann über Chi ausgesagt werden. Wenn das Chi im Körper aktiviert ist, kann man es erfühlen." (a.a.o.)  

Das  zweite Wochenende war dieser Aktivierung des Chi gewidmet; wieder war die Struktur zwei Stunden Theorie, eine Stunde Praxis, lange Mittagspause, dann weiter im gleichen Rhythmus. Kondensierte Energie entfaltete sich zwischen unseren Händen, Prof. Lu Jinchuan verstärkte interessierten Teilnehmern das Chi an den Handflächen, danach gab es eine ernste Prüfung im Aussenden und Wiederzurückholen von konzentrierter Energie (so genannter "Chi-Bälle") über die Distanz von mehreren Metern - viele Teilnehmer bestanden die Vorprüfung nicht. Die Diagnose von Erkrankungen wurde eingeleitet und vertieft. Von außen betrachtet, erschien das zweite Seminar nicht so spektakulär wie das Erste; die Entfaltung der Wahrnehmung dieser subtilen Energie innerhalb und außerhalb des eigenen Körpers aber war überwältigend für mich, für viele, aber nicht für alle Teilnehmer. Die unmittelbare Erfahrung derartig schnell zu entwickelnder menschlicher Fähigkeiten birgt auch eine große Anzahl hiermit einhergehender Fragen in sich.
"Tao als die Mutter der Welt, alldurchdringend und allumfassend, unveränderlich und unaufhörlich, wird von Chuang Tzu als Ta T ung oder die große gegenseitige Durchdringung verstanden. Die Welt der großen Durchdringung ist frei von allen Eigenschaften und Widersprüchen. Sie ist dem Zugriff jedes intellektuellen Prozesses verschlossen. In dieser Welt gibt es weder Raum noch Zeit, sie ist unendlich. Chuang Tzu beschreibt sie wie folgt: "Das Sein wohnt nicht an irgend einem Ort. Ablauf ist ohne Zeitdauer. Sein ohne festen Ort ist Raum. Ablauf ohne Zeitdauer ist Zeit. Es gibt Geburt, es gibt Tod, es gibt Hervortreten, es gibt Einkehren. Durch das wir ein und ausgehen, ohne seine Form zu schauen, das ist das Tor des Himmlischen. Das Tor des Himmlischen ist das Nichts. Alle Dinge kommen aus dem Nichts" (Kap. 23)"
(John Blofeld, "Der Taoismus", Diederichs gelbe Reihe, Köln 1983, S.33)

Im Gegensatz zu vielen so genannten asiatischen "Meistern" an diesen Wochenenden offenbar, dass es sich hier um einen traditionellen Weg handelt, dessen Wurzeln und Erfahrungen über Jahrtausende von Großmeister zu Großmeister übertragen wurden. Prof. Lu Jinchuan ist als gegenwärtiger Stammhalter dieser Linie Großmeister Fan Fu. Sein ausdrückliches Bestreben ist es, in einer Form der traditionellen Vermittlung, zum ersten Male in Europa Meisterschüler auszubilden um den Samen dieser Kultur, Naturerkenntnis und Medizin, in die westliche Welt zu setzen - ein ernster, nicht völlig ungefährlicher und mit strengen Prüfungen verbundener Weg für die Studenten dieser Tradition.
Die Transzendierung des Raum-Zeitkontinuums ist für den Taoismus vergleichbar der westlichen  Selbstverständlichkeit, eine elektrische Lampe in der Nacht anzuschalten und gehört zu den der menschlichen Existenz inhärenten, naturgegebenen Möglichkeiten.   

London, November 1999: das dritte Seminar – Chi Dao 3  

Eiskalte Novembertage in London. Der Veranstaltungsort: eine heruntergekommene Schule, fast eine Baracke in einem Vorort. Teilnehmer: einige Berliner enge Schüler, daneben fortgeschrittne Schüler überwiegend Chinesischer Abstammung, überwiegend fortgeschrittene Kampfkünstler; auch ein frühere US-Geheimdienstleiter war zu meiner Überraschung anwesend. Die Anweisungen entsprachen denen des ersten Seminars, jedoch zischte Lu Jinchuan in einer bisher für mich unbekannten Art und Weise. Bereits bei den ersten Lauten führte mich das Chi-Feld in völlig sanfte und koordinierte Bewegungen, die ich wie ich später herausfand, teilweise hochkomplexen Tai Chi Chuan Formen entsprachen.
Ungefähr die Hälfte aller Teilnehmer wurde auf den Boden gezogen und begann mit fischartigen Bewegungsformen. Für mich erschien es, als wäre ich von einer Sekunde zur Nächsten in eine andere Welt katapultiert worden; eine Welt, die von diesem Moment mir immer zugänglich bleiben sollte – zu jeder Zeit an jedem Ort. Am nächsten Morgen betraten wir den Veranstaltungsraum; eine vollständige Wand war mit 64 Quadraten ausgestattet worden. Prof. Lu Jinchuan ließ durch die Übersetzer mitteilen, dass ein Quadrant mit extrem schlechten, ein weiterer mit extrem intensiven Heilungs-Chi von ihm vorbereitet worden war.
Unsere Prüfung bestand darin, diese beiden aus der Masse der Quadranten aus einer Distanz von acht Metern mit unseren Händen herauszufiltern. Nur wenige Teilnehmer bestanden diese Herausforderung. Lu Jinchuan öffnete ihnen als Geschenk die Handflächen, indem er alle Ablagerungen, die im Laufe unseres Lebens wie Verklebungen auf den Handinnenflächen bestehen, entfernte.
Eine derartig behandelte Hand ist wie die eines Säuglings, sensitiv aber auch schutzlos. Aus letzterem Grunde streifte Lu Jinchuan uns Handschuhe aus weichem Chi darüber, damit kein Krankheits-Chi in uns eindringen würde. Derartig geöffnete Hände ermöglichen ein Abtasten des menschlichen Körpers ohne Berührung auf einer Distanz bis zu fünf Metern – Krankheits-Chi wird durch deutliche, sich elektrisch anfühlende Strömungen in den Fingern oder je nach Intensität der Erkrankung sogar in den Handinnenflächen erkennbar. Dieses Geschenk gehört zu den wundervollsten meines Lebens. Mit dieser Prüfung war der grundlegende Teil der Ausbildung abgeschlossen – wer weitergehen wollte, musste sich auf einen geistigen Kampf mit Lu Jinchuan einlassen; Über das Unbekannte, was auf mich wartete, erfuhr ich nichts...  

Die Unterrichtungen: Tai Ji Dao 3+ und 3++:  

Diese nur für wenige ausgewählte Schüler zugänglichen Seminare bestehen in harten, unnachgiebigen Streitgesprächen mit Lu Jinchuan. Insgesamt 84 von ihm vorbereitete philosophische Grundfragen zur menschlichen Existenz auf diesem Planeten wurden in Einzelgesprächen mit ständiger Hinterfragung der Antworten wie in einem geistigen Schwertkampf auf kompromisslose Art und Weise diskutiert.
Es kann dabei zu gegenseitigem Anschreien, Tränen und Zusammenbrüchen der Schüler kommen, auch Lu Jinchuans Fragen und Antworten sollten in aggressiver Weise von den Schülern in Frage gestellt werden.

Das Geschenk  

Auf seine Anweisung stand ich allein mit geschlossen Augen in einem abgedunkelten Raum. Nach mir unendlich lang erscheinend gewordener Zeit begann sich in meinem Becken etwas völlig Unbekanntes zu ereignen, dass ich fassungslos wahrnahm: in goldener, solider Stab bildete sich horizontal ungefähr am unterem Ende meiner Wirbelsäule in meinem Körper aus. Ganz langsam begann sich dieses Gebilde aufwärts zu bewegen; staunend sah ich es anscheinend Millimeterweise mein Rückrat und alle vor diesem gelegenen Organe zu durchstrahlen.
Als dieser seltsame Stab auf Höhe meines Zwerchfells erschien, bekam ich einen Anflug von Panik: was würde geschehen, wenn diese Energieerscheinung durch das Reizleitungssystem meines Herzens gehen würde. In diesem Moment öffnete ich die Augen – ohne das ich seine Schritte oder seine Atmung wahrgenommen hatte, stand Lu Jinchuan genau vor mir du hatte seine Finger direkt auf Höhe meines Zwerchfells gerichtet. Ein sehr ernstes Lächeln erschien auf seinem sonst eher regungslosen Gesicht. Ich schloss wieder meine Augen und bemerkte, dass er den Lichtstab wieder anhob und mein gesamtes Herz zu glühen begann.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das meine Arme mit einer ungeheuren Rotationsbewegung über meinen Kopf  geschossen wurden, mein Körper zunächst konvulsisch nach hinten zum Boden geführt wurde um dann wieder in eine stehende Position zu gelangen. Lu Jinchuan blickte weiterhin mit einem ernsten Lächeln zu mir, verließ den Raum und einer seiner alten fortgeschrittenen Chinesischen Schüler, Mr.Yeung, betrat den Raum. Wir beide, waren uns schon einige Male in Berlin und London begegnet; fast alle Seminare in England fanden im Kaminzimmer seiner Villa in London statt und ich hatte absolutes Vertrauen zu ihm.
Mr.Yeung erklärte mir, dass ich ein unglaubliches Geschenk erhalten hätte, was noch nie Einem westlichen Schüler von unserem Lehrer in der Vergangenheit zuteil wurde. Stunden später wurde ich zu einer Versammlung der ältesten Schüler- es waren unter zehn gebeten. Lu Jinchuan sagte, ich wäre weitsichtig und mutig, er äußerte die Bitte, ich sollte über Jahre den Auftrag erfüllen, die höchste philosophische Schule einem ausgewählten - besonders von ihm betont – kleinem akademischen Schülerkreis vermitteln und Seminare über die Anfangsstufen durchführen. Vielleicht mit dem Ausblick auf ein nach vielen Jahren zu gründendes medizinisches Ambulatorium auf der Grundlage der Chi-Medizin des Taoismus. Und er betonte seine Befürchtung, ein drohender Bürgerkrieg in China könnte wie zu Zeiten der Kulturrevolution die Wurzeln der tiefen traditionellen Schulen diesmal fast völlig zerstören... auch aus diesem Grunde die Entscheidung, die Wurzeln und das Wissen in die westliche Welt hinüberzuretten.
Nach langen Überlegungen hatte er sich für Berlin als westliches Zentrum dieser Tradition entschieden und mich zu seinem Schüler in Verantwortung für den Westen ernannt. Eine Bitte war damit verbunden: ich sollte in kurzer Zeit nach Bangkok kommen, um seine Lehrmethoden in der östlichen Welt für einen Zeitraum von fünf Wochen kennen lernen. Von all den wunderbaren älteren Schülern aus China, Taiwan und den USA wurde ich aufs Herzlichste gratuliert aber ich ahnte auch, welch große Aufgabe ich hatte übertragen bekommen, von dem Preis dafür ahnte ich nichts.  

Der taoistische Flug und der Pass des Wahnsinns: Berlin, Mitte November 1999 bis Ende Januar 2000.  

Zurück in Berlin fühlte ich mich von einer hellen, klaren Energie durchdrungen, mit einer zunächst stillen, von außen wohl nicht wahrgenommenen Euphorie begann ich mit zahlreichen Ärzten und alten Professoren verschiedener medizinischen Fachbereiche eine deutschlandweite Großkonferenz zu organisieren: den Gesundheitstag 2000 in Berlin. Für den Themenbereich Alternativ- und  Komplementärmedizin war ich der Hauptverantwortliche. Es war eine Traumaufgabe: hunderte von Einzelpersonen, Institutionen, traditionellen Verfahren wie Akupunktur und Homöopathie und deren Standesorganisationen wollten mit Vorträgen, Fortbildungsseminaren und Präsentationen dabei sein. Viele wunderbare Menschen aus meiner Vergangenheit kamen wieder zusammen, um gemeinsam dieses eine ganze Woche in Anspruch nehmende Großprojekt zu verwirklichen. 
Es gab nur ein Geschehen, was mich zunächst nicht beunruhigte: ich konnte kaum noch schlafen, fühlte mich aber voller Energie und geistiger Klarheit.
Meine Ess- und Trinkgewohnheiten änderten sich: ich aß viel Obst, und konnte fast ausschließlich Mineralwasser, reine Fruchtsäfte und absurderweise eine bestimmte Sorte Champagner zu mir nehmen. Des Weiteren begann ich Anfallsweise derart zu schwitzen, was zu extremen Situationen führte, dass ich unbekleidet bei Temperaturen um den Gefrierpunkt bei geöffneten Fenstern im Dachgeschoss ein großes Badetuch hinter mir herziehen musste, um meinen Parkettfußboden trocken zu halten. In allen Arbeitssituationen mit meinen Patienten, bei Seminaren, bei der Zusammenarbeit des Koordinationsteams für die Konferenz erinnert auch niemand damals oder nach Jahren irgendwelche Auffälligkeiten mit Ausnahme der scheinbar beeindruckenden Energie, mit denen ich diese  verschiedenen Arbeitsebenen miteinander in Einklang brachte. Freunde und mir nahe stehende ehemalige Beziehungen beschrieben mir aber für sie beunruhigende Erfahrungen in abendlichen Zusammenkünften: sie bekämen vibrierende, beängstigende Empfindungen, je räumlich näher sie mir waren, sie fühlten sich unangenehm elektrisch aufgeladen nur bei einem Händedruck oder einer herzlichen Umarmung, ein seltsames feines Leuchten wäre um mich herum und meine Augen würden fremdartig glühen – ich hielt dies alles für ein bisschen verrückt, da es mir so gut wie (fast) noch nie erging. Dann aber konnte ich auf einmal nachts mit geschlossen Augen jede Einzelheit meiner Wohnung erkennen, alles war in ein sanftes, beständiges, goldenes Glühen gehüllt. Ich konnte meine Hände vor meine Augen halten, zu einem meiner zahlreichen Bücherregale gehen und jedes Buch erkennen. Dies in Ansätzen mir nicht völlig unbekannte Geschehen war zuerst natürlich beeindruckend, allerdings war ein Einschlafen nicht oder kaum mehr möglich – es Begann Ende Dezember 1999 und sollte bis zu meinem Wiedersehen mit Lu Jinchuan Ende Januar 2000 fortbestehen. Meine Sinne erweiterten sich: auch am Tage nahm ich ein sanftes, goldenes Feld um organische Körper wie Menschen, Tiere, Pflanzen wahr – in unterschiedlicher Intensität, beglückend und mit der Zeit irritierend zugleich. Während sich meine Wahrnehmung dieses Lichtes um organische Körper weiter verstärkte, begann schwach auch die anorganische, nicht lebendige Welt schwach gülden schimmernd zu erscheinen... immer mehr wurde die gesamte äußere Welt von einem goldenen Schein durchzogen.
Dieser Prozess ging so weit, das ich mich entschied nicht mehr meinen Wagen zu benutzen, weil selbst das grün-gelb-rot der Verkehrsleitsysteme nur noch undeutlich hinter dem goldenen Schimmer zu erkennen war. Es fühlte sich an, als wenn eine Hochenergie meinen Körper erfasst hätte und mein gesamter Organismus durch eine extreme Entgiftungsphase gehen würde, ich verlor ungefähr zehn Kilo Gewicht in diesem Monat. Die Sorge meiner nächsten Menschen wurde immer größer – im Gegensatz dazu ermutigten mich zahlreiche meiner alten Gefährten, Leitpersonen und Professoren, unbedingt weiterzugehen und schickten mir Gedichte, Zitate und Bücher über derartige Extremerlebnisse. Eine der bedeutendsten Begleitpersonen war meine alte Lehrerin und Freundin Dr. Eva Reich, damals über achtzigjährig.
Wir telefonierten fast jeden zweiten Tag ausführlich über meinen Prozess. Immer wieder sagte sie: lauf, lauf, dreh dich nicht um, auch nicht zu Claudia, deiner langjährigen Lebensgefährtin, zu niemand, du wirst irgendwann erschöpft zusammenbrechen und dich erholen müssen aber du darfst diesen Prozess nicht unterbrechen – er ist ein einmaliges, unwiederholbares Geschenk. Und – ich sage dies hier zum ersten Mal öffentlich – ihr Vater Wilhelm Reich hätte ebenfalls einen ganz ähnlichen Prozess durchlaufen, sie selbst viele Jahre nach seinem Tod ebenfalls. Von großem Vorteil war, dass sie fast zwei Jahrzehnte in Berlin unterrichtet hatte und fast alle meiner Liebesbeziehungen und engsten Freunde kannte und diese in ihrem Erfassungsvermögen sehr gut einschätzen konnte. Sie wusste, dass diese durch den mir widerfahrenen Prozess tiefe Verlustängste erlitten. Ich schwieg über diese Telefonate und die nach zwei Schlaganfällen völlig zurückgezogen lebende Eva ließ auch keine Telefonate mit Anderen zu. Erst Mitte Januar 2000 reagierte sie auf Gerüchte, einige meiner Schüler hätten mich in Bezugnahme auf sie für verrückt erklärt, in einem über mehrere Verteiler multiplizierten Brief, das sie im größtmöglichsten Widerspruch hierzu diesen meinen Weg mit Freude, Wohlwollen und Unterstützung begleitet und die Urheber solcher Gerüchte lieber an ihrer eigenen Angst arbeiten und mich nicht behindern sollten. Als Lu Jinchuan in Peking von zwei meiner engsten Freundinnen und Schülerinnen in Sorge um mich kontaktiert wurde, ließ er durch einen Londoner Schüler in Berlin fast die gleiche Botschaft an alle Beteiligten verlauten: lasst ihn laufen, laufen, fliegen, behindert ihn nicht, er – und nun hörte ich zum ersten Mal die Hintergründe – ist als erster westlicher Schüler zum ersten großen Flug des Taoismus von mir ausgesucht worden. Und er sagte, als er vor langer Zeit von seinem Lehrer in diese Erfahrungen geschickt wurde, hätten ihn ebenfalls viele seiner Freunde für wahnsinnig erklärt... Der Flug sei lebensgefährlich und trüge als zweiten Titel „Die Überquerung des Passes des Wahnsinns“. Die Anderen hätten noch viele Jahre Arbeit an sich selbst nötig, um derartige Grenz- und Gipfelerfahrungen auch nur ansatzweise zu erleben.

Und dann die Sonne...  

Das zentrale Erlebnis geschah mir Mitte Januar 2000 und kam aus dem Nichts. Ich wachte am frühen Morgen zur Zeit der Dämmerung auf und fühlte ich hervorragend – wie immer in dieser Periode meines Lebens. Ich wohnte im fünften Stockwerk in einer sich über zwei Etagen erstreckenden Dachgeschoßwohnung, am Landwehrkanal, Berlin überblickend, aus diesem Grund auch den Sonnenaufgang über der Stadt erblickend. Als die ersten Strahlen durch die oberen Dachfenster meinen Arbeitsbereich und damit mich erfassten, fühlte ich mich von ihnen durchdrungen und durchgeglüht. Ich empfand keine Angst, vielmehr eine Herrlichkeit, die an meine physischen Grenzen rührte.
Jede Zelle meines Körpers erschien als vom Licht durchdrungen... und genährt.
Die großen mystischen Erfahrungen auch abendländischer Initiierter kamen wie aus einem großen Pool des Wissens in mein Bewusstsein und selbst umstrittene Phänomene wie die so genannte Lichtnahrung wurden mir unmittelbar verständlich. Mein Körper fühlte sich fast nicht mehr in der gewohnten Schwere der Erdanziehung unterworfen an. Noch intensiver als zuvor begann die Welt um mich herum in einem rein sanftgoldenen Glühen befindlich zu sein. Es war die Erfahrung der Gewissheit, dass wir nicht nur Kinder, sondern Teile eines unendlich größeren Organismus, den wir Sonne nennen, sind. Und dies nicht in einem übertragenen Sinne sondern als absolute, normalerweise für uns unfassbare Realität.
Eben nicht – was für jeden Menschen klar sein sollte – dass wir nicht ohne Sonne leben würden und können, sie kann es ohne uns auch nicht...
(Goethe: „Wäre nicht das Auge sonnenhaft ...“)

Mit dem Erscheinen des transzendenten Lichtes wurde offenbar, welche Bedeutung das sinnliche Licht und der Gegensatz von Licht und Dunkelheit für die Menschen hat, und das nicht nur für die Sinneswahrnehmung sondern auch für ihr Denken und ihren Glauben.  

Wenn das Licht, von allen dunklen Beimischungen befreit, den Menschen ganz erfüllt, ist er im Besitz der Wahrheit.  

Während dieser Zeit fand ich zum ersten Male Zugang zu dem Werk des Parmenides „Über das Sein“.
In seiner verschlüsselten, teilweise an das Taoteking erinnernden Schrift beschreibt der vorsokratische Philosoph eine exstatische Initiationserfahrung, die ihn an die Grenzen der Sinneserfahrung führt, diese sogar überschreitet – es öffnen sich ihm die yang-Funktionen der Sinne. Parmenides lässt die Grenze, die Dualität von Nacht und Tag hinter sich und damit in seinen Worten die Scheinwelt mit ihren Zweiheiten, die der Wahn der Menschen ist. Er transzendiert zu der Wahrheit des einen und einzigen, in sich grenzenlosen und darum lichterfüllten Sein.
Dieses hinüber gleiten ist kein Verströmen, ein Auf- oder Untergehen des erkennenden Geistes in einem lichten Meer der Grenzenlosigkeit, sondern ein Erreichen einer Schranke oder Mauer aus Licht, an der das Sein unzerstreut, ohne dass sich an ihm Nahes und Fernes unterscheiden ließe, in seiner unmittelbaren Totalität anwesend ist. Wahrheit oder Sein sind Licht. Aus der parmenidischen Erkenntnislehre ergibt sich: Wie die Wahrheit unwandelbares, reines Licht ist, eine heiße Glut, so auch die Erkenntnis, die ihr entspricht – und die Erkenntnis nimmt in dem Maße ab, in dem sie sich von der Wahrheit entfernt, bis zur vollkommenen Erkenntnislosigkeit, die identisch ist mit Dunkelheit und Tod. Schlaf, Alter und Tod gehen auf ein Schwindendes lichten Anteils im Menschen zurück.
Die vollkommene Dunkelheit ist absolutes Unwissen und Tod, das vollkommene Licht absolute Erkenntnis und Leben. Das Licht der Wahrheit breitet sich nicht wie das Sonnenlicht aus. Es lichtet, es ätherisiert, es transzendentalisiert den Raum, der sich in diesem Lichte auflöst und bis zum Unendlich- Ewigen entgrenzt.
Die Wahrheit ist Licht, nicht nur soviel wie Licht.  

„Wer die Wahrheit kennt, kennt es, und wer es kennt, der kennt die Ewigkeit. Die Liebe kennt es.“
(Augustin, conf. 7,10)  

Wie eine Zelle eines Organs nicht außerhalb des menschlichen Körpers existieren könnte, so kann der menschliche Organismus auch ohne die Zellen seiner Gewebe und Organe existieren. Die tiefe philosophische Sicht dieser Erkenntnis werde ich im zweiten, theoretischen Teil ausführen. Alle Fragen, aber auch alle Fragen zur Sinnfrage der menschlichen Existenz waren damit offenbart: wir sind Zellen einer unfassbar größeren Existenzform, die möglicherweise auch wiederum nur ein Organ einer noch höheren Daseinsform bildet. Als mein Lehrer durch seine älteren chinesischen Schüler in London, mit denen ich auch in ständiger Verbindung gestanden hatte, von dieser Erfahrung erfuhr, bat er mich für einen Monat nach Bangkok zu einem speziellen Seminar mit seinen ältesten chinesischen und thailändischen Schülern zu kommen. Ein Spezialübersetzer stünde bereit. Symposium wird, wie könnte es in Platons Höhle anders sein, oft genug mit Festmahl oder Trinkgelage übersetzt. Bei Platon geht es dabei aber um etwas gänzlich anderes als im griechischen Volke. (...) es geht dabei um er (Austritt aus dem Sein = Eintritt in die Stille). Meditative Trunkenheit erfrischt, verjüngt und erweckt verlorene Fähigkeiten aus früher Kindheit.

Dazu Goethe: „Jugend ist Trunkenheit ohne wein.“ Ekstasis verweist auf nichts anders als „Heraustreten aus dem vertrauten Bewusstsein“.

Es ist das, was man heute als „inniges Abschalten“ nennt, auch wenn die wenigsten Menschen wissen, wie intensiv es, mit Unterstützung eines in jahrtausendelanger Tradition stehenden Lehrers werden kann – lebensbedrohlich. Ekstasis in ein Hineintreten in die Welten des Tai Ji, das Durchqueren des Tores (Men), die Erfahrung der „Traumfahrt des Parmenides“. Es ist auch der Ein- und Aufstieg in die platonische „Welt der Ideen“, in das Erfassen des Jenseitigen, Unergründlichen mit der unsterblichen Seele. Es ist der Beginn der vier jenseits menschlicher Vorstellungskraft befindlichen „Flüge des Taoismus“. Wie anders als durch meditative Trunkenheit in Selbstbewegtheit in den kreiselnden formlosen göttlichen Wahnsinn (mania = Rausch), dem Tai Ji begeben? Oder wie der im Sufismus gegründete Dichter Rumi es erlebte: „Ich brenne, brenne, brenne – freundet euch an mit eurem Brennen“.

Bangkok, Ende Januar bis Anfang März 2000.  

Ausgerüstet mit einem speziellen Laptop mit Satellitentelefon, welches mir die ständige Kommunikation mit dem Koordinationsgremium unserer geplanten Konferenz ermöglichte, begab ich mich zum ersten Mal nach Asien auf eine Reise ins Ungewisse. Am Flughafen wurde ich von einem thailändischen Fahrer abgeholt und etwas außerhalb des ältesten Kerns der Stadt zu einem kleinen, unauffälligen Hotel gebracht. Ein kleines, aber sauberes und klimatisiertes Zimmer mit Dusche und Blick auf einen großen, von einem kleinen Fluss durchzogenen Friedhof erwartete mich. Es kostete umgerechnet zwei DM pro Nacht. Auf dem Bett befand sich eine englischsprachige Notiz; ich sollte die anliegende Sackgasse hinuntergehen zu einem bestimmten Gebäude und den Sicherheitsbeamten am Anfang der Strasse ein bestimmtes Codewort sagen. Nach einer kurzen Dusche - es war unerträglich heiß und feucht – ging ich nur mit einer weißen Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet unter Zischen eines Lautes an mehreren, schwarz und bis auf die Bewaffnung unauffälligen Sicherheitsläuten in die Sackgasse hinein.
Alles erschien unauffällig: einige winzige thailändische Imbisse, ein Gemüseladen, ein Blumenladen, mehrere geschlossene Geschäfte, alles nach westlichen Maßstäben etwas armselig und heruntergekommen. Nach etwa fünfhundert Metern endete die Strasse an der Friedhofsmauer. Das zweitletzte Gebäude war etwas höher als die anderen in der Sackgasse befindlichen Häuser, und: es standen lauter, zumeist europäische Luxuslimousinen in zwei kleinen Gassen rechts und links von ihm geparkt. Es erschien mit seinen, verstaubten  großen Fensterfronten zur Strasse hin gleichwohl verlassen. Ich blieb vor der gläsernen Eingangstür stehen. Nach einiger Zeit kam jemand eine von außen sichtbare Treppe herunter, öffnete die Glastür und sagte in gebrochenem Englisch, das der Lehrer mich schon erwarten würde. Ein altes Sofa, mehrere alte Sessel, in einem gläsernen Nebenraum ein langer, bestuhlter Tisch, mehrere verschlossene Türen bildeten das große Erdgeschoß. Auf dem Weg nach oben durchquerten wir den ersten Stock; ein riesiger, völlig leerer Raum lag vor mir. Im zweitem Stock Stimmen, ich betrat den gleichen Raum, nun mit Stühlen und einer riesigen Tafel ausgerüstet, und jemand begann zu singen: mein Lehrer. Ungefähr zwanzig Chinesen standen auf und verneigten sich vor mir. Mein Begleiter versuchte mir zu sagen, dass ich zu meinem Lehrer gehen sollte. Unsicher ging ich an den Anderen vorbei und Lu gab mir lächelnd in europäischer Tradition die Hand und schien den Teilnehmern irgendetwas von mir zu erzählen, was ich nur an seinem wie immer fast gesungenem Heikooo glaubte erkennen zu können. Alle Chinesen kamen darauf zu mir und gaben mir mit einem Lächeln und gegenseitiger Verneigung die Hand, darauf sprach Lu Jinchuan wieder Hochmandarin und fuhr mit seinem Vortrag fort – natürlich verstand ich kein Wort. Zahlreiche Stunden später begannen wir alle im ersten, leeren Stockwerk mit der einzigen Übung (man könnte sagen: Meditation) der höchsten philosophischen Schule des Taoismus, den spontanen Bewegungen in einem besonderem Chi – Feld. Es erfasste mich in einer ungeheuer intensiven, gleichwohl unbekannten sanften Art. Danach ging ich schlafen, schlafen, schlafen…  

Beginn einer Initiation  

Ich hatte nicht die geringste Kenntnis, weshalb Lu Jinchuan mich aufgefordert hatte zu diesem Seminar nach Bangkok zu kommen, noch keine irgendwie geformte Ahnung, um welche Inhalte es gehen würde. Am nächsten Morgen aß ich Eier mit Reis in einem der winzigen Imbisse in der Sackgasse und ging dann zu dem seltsamen Gebäude, die Glastür war geöffnet. In dem abgetrennten, gläsernem Raum im Erdgeschoss saßen mein Lehrer und ich glaube alle seine älteren Schüler zusammen, Lu Jinchuan winkte mich herein. Er stellte mir meine Übersetzerin, eine bekannte Journalistin aus Peking, vor und bestand darauf, dass ich von nun an gemeinsam mit allen gegen acht Uhr morgens das Essen zu mir nehmen sollte, nicht als Befehl, sondern als dringende Bitte. – Um tiefer in seine Lebensweise Einsicht nehmen zu können. Yaozha, eine bekannte Journalistin aus Peking (ich verändere die Namen aus weiter unten angeführten Gründen), blieb bis zum Abschluss meines Aufenthalts als perfekt Englisch sprechende Übersetzerin an meiner Seite. Begeistert, aber doch vorsichtig erläuterte sie mir die offizielle Position der anderen Teilnehmer; die überwiegende Anzahl waren chinesische Politiker in ehemaligen oder auch gegenwärtigen Ämtern, der Rest einflussreiche thailändische Persönlichkeiten – alle in Opposition zur Hauptlinie der vorherrschenden Politik der chinesischen Regierung, wenn auch Amtsinhaber der Gleichen. Für mich kam dies völlig überraschend – war nicht der philosophische Taoismus als völlig zeitlos und unpolitisch und weltfern in der europäischen Literatur bekannt? Eines war auffallend: niemand am Tisch sah in meiner Vorstellung (erst Recht nicht mein Lehrer) aus wie ein Chinese, den man in europäischen oder amerikanischen Großstädten als Inhaber eines Chinarestaurants oder ähnlichem wahrnehmen würde, in den Gesichter war etwas geistiges, Überkulturelles warzunehmen. Lu Jinchuan bat uns in den zweiten Stock und eine Assistentin begann Akupunkturnadeln nach seinen Anweisungen auszuteilen - wie ich beobachtete, bekamen manche Anwesende fünf, manche drei, ich zwei Nadeln.
Ich bekam ein wenig Angst, vielleicht besser: Unruhe. In einer kurzen Unterbrechung sollten wir uns dick anziehen, mit Anoraks, Lederjacken oder Sakkos, dies bei durchschnittlich vierzig Grad Celsius. Und wieder auf die Stühle setzen und die Augen schließen. Lu Jinchuan begann zu zischen und ein Chi – Feld aufzubauen, was sofort in mir bekannter Weise durch meinen gesamten Organismus rieselte. Entgegen seiner Anweisung verfolgte ich, wie er bei jedem mir sichtbaren Anwesenden die Nadeln setzte, manche Teilnehmer wurden in diesem Augenblick durchzuckt, manche gingen in rhythmische Ganzkörperbewegungen, wenige blieben still. Auf einmal stand er vor mir, lächelte, wohl wissend das ich halbgeschlossene Augen bewahrte und setzte eine Nadel auf den Scheitelpunkt meines Schädels, die zweite in die Mitte des Brustbeinknochens, ich spürte den Einstich, es war nur ein geringer Schmerz obwohl er beide Male in den Knochen gestoßen hatte. Lu Jinchuan zischte zu mir und meine Arme gingen seitwärts in die Höhe, gleichzeitig begann mein Kopf wie von eisernen Händen geführt in eine Drehbewegung, die einer Lemniskate (das mathematische Unendlichkeitszeichen) entspricht zu gehen.
Er lachte und zischte erneut zu mir. Völlig ungewöhnlich für sein Verhaltensrepertoire, legte er mir seine Hand auf meine rechte Schulter und ging. Mir rann in meinem weißem T-Shirt (ich hatte in der kurzen Pause nicht genug Zeit gehabt, zum Hotel zu gehen) der Schweiß vom Kopf den ganzen Körper herunter – als ich meine Augen öffnete, war meine Kleidung voller Blut, es war nie Schweiß gewesen. Nach einer Stunde, es kam mir vor wie eine Ewigkeit, sollten wir die Augen öffnen und aufstehen, fast niemand trug mehr eine Nadel, die zu entfernen war, auch meine lagen in deutlicher Distanz zu meinem Stuhl.
Jeder sollte seine Akupunkturnadeln suchen und zu sich nehmen. Danach ließen wir uns auf das veränderte Chi-Feld des Raumes ein und gingen in spontane Bewegungen; die lemniskatische Kopfbewegung sollte mich bis zum heutigen Zeitpunkt in Zuständen der vollkommenen Entspannung begleiten. In dieser Struktur verliefen auch die kommenden Wochen: gemeinsames Frühstück, spontane Bewegungen, Lehrabschnitte durchgeführt von Lu Jinchuan, Chi – Akupunktur, spontane Bewegungen, gemeinsames Abendessen, Lehrabschnitt, spontane Bewegungen, der Tag endete um 11 Uhr abends. Fast jede Nacht nahm ich ein preisgünstiges Taxi nah zu den Parkanlagen des „Tempels der goldenen Morgendämmerung“, Wat Arun. Eines Tages bat ich meinen Lehrer mir am folgenden Tag frei zu geben, um die Stadt und die Kultur Bangkoks kennen lernen zu können, er willigte erfreut ein. Am nächsten Morgen stand ich in einer endlosen Schlange von Einheimischen und Touristen vor den Toren des Kaiserpalastes und war kurz vorm Aufgeben als ein kleiner, uralt aussehender Mann mich mit Heikooo... ansprach und sich in gebrochenem Englisch als „Mr. Dao“ vorstellte.
Es begann ein unvergesslicher Tag: den alten, gebeugten Mann (der hochvital und gelenkig mich mit atemberaubender Geschwindigkeit bis kurz vor Mitternacht an unzählige wunderbare Orte führte) schien jeder in der ganzen alten Stadt zu kennen. An keinem Ort, in keinem Tempel mussten wir warten oder Eintritt bezahlen, überall wurde er wie ein alter Bekannter begrüßt, wir sprangen von Wasserboot zu Wasserboot und er versuchte mir die Geschichte der Stadt, die Ursprünge der Kultur des Königreichs von Siam (Thailand, Laos, Kambodscha), die gegenwärtige politische Situation und vor allem die Grundzüge der Volksmedizin Thailands zu erklären... Lu hatte mir einen herausragenden Begleiter gegeben. Natürlich lehnte er jede Bezahlung ab. Lu empfing mich gegen ein Uhr nachts lächelnd am Eingang des unscheinbaren Seminarhauses. Auch wenn ich vieles nicht verstand, er ließ mir mehrfach mitteilen, das ich hier sein sollte, um seinen tiefen Stil der Vermittlung und Übertragung von Wissen und Erfahrung kennen zu lernen, manchmal war es in seinem Schlafzimmer im obersten Stock des Gebäudes mit nur wenigen eingeladenen Teilnehmern, sie waren zumeist länger als acht Jahre seine Schüler. Dieser Unterricht hatte einen für westliche Gelehrte etwas ungewöhnlichen Rahmen: in einem spartanisch eingerichteten großen Schlafraum befanden sich acht oder zehn unbequeme Holzstühle und mein Lehrer saß auf einem ebensolchen vor den eingeladenen Schülern. Allerdings mit hochgekrempelten Hosen mit den Füßen in einer großen Wasserwanne und ließ sich fast den ganzen Unterricht von einer wunderschönen Assistentin die schwarzen Haare immer nach hinten kämmen. Weniger ernst, aber spaßhaft und wütend zugleich stellte er mit seiner singenden Stimme Einzelnen Fragen (ich konnte nicht folgen, meine Übersetzerin kam aufgrund des Eifers der Diskussionen überhaupt nicht mit), die diese mit großer Ernsthaftigkeit oder ebenfalls unter Wutanfällen, manchmal vom Stuhle aufstehend und/oder wild gestikulieren beantworteten. Oft begannen Lu und andere scheinbar aufgrund der Antworten sich in Lachsalven zu äußern. Alles erschien mir wunderbar und seltsam zugleich durchdrungen von einer großen Harmonie. Darüber hinaus fiel mir auf – nicht wenn ich im Kreis der Schüler mich befand, aber auf dem Weg zu meinem Zimmer und auf meinen nächtlichen Ausflügen zum Wat Arun – das er kontinuierlich an der Entwicklung unserer Energiefelder arbeitete und mich Schritt für Schritt mit der Chi – Akupunktur höher hob. Es war das Gegenteil von dem, was ich meine besorgten Freunde erhofft hatten – Lu bremste meinen Prozess nicht ab, stattdessen intensivierte er ihn.  

Erst in Bangkog erfuhr ich durch Lu, das ich den „Kleinen Pass des Wahnsinns“ durchquert und damit den ersten Flug des Taoismus vollzogen hatte. Ernst und für mich unvorbereitet erklärte mir mein Lehrer, das während dieses Geschehens auch manche Schüler in lebensbedrohliche Erfahrungen kommen, ja Einige während der ersten zwei Flüge sogar sterben würden. Die Intensität des „Brennens“ und der damit einhergehenden energetisch/physiologischen Körperreaktionen seien nur grenzwertig zu verkraften. In der taoistischen Erfahrungswelt muss der Schüler – metaphorisch „das Landen“ lernen. Lu teilte mir mit, das beim ersten Flug jeder Schüler körperlich und geistig am Boden zerschellt, sich Monate von dieser überwältigen Energieerfahrung erholen muss, um diese in seiner Existenz verkörpern zu können. Der zweite Flug, den mein Lehrer in Thailand initierte, wäre ähnlich gefährlich, weil er nach einigen Tagen die „Flughöhe“ des Vorangegangenen übertreffen soll – auch dabei ist keine sichere „Landung“ möglich, die Schwere der seelisch/körperlichen Erschütterung aber bei nun erlernten Verhalten weniger ausgeprägt. Der dritte Flug sollte aus nun bekannter „Flughöhe“ mit einer beherrschten, sorgsamen Landung beendet werden. Der vierte und letzte Flug geht in die Unendlichkeit – eine Rückkehr ist nicht mehr vorgesehen.
Um es anders zu beschreiben: die erste Übertragung und Kontaktaufnahme mit dieser geistigen Tradition wird als Samen – der Zhongze –von dem Lehrer und Stammhalter dem Schüler gegeben, nach langer Entwicklung wird der Schüler vor dem dritten Flug zu einer ihm unbekannten Zeit an einen ihm unbekannten geleitet oder geführt. Der Schüler ist nun unter der Leitung von Himmel und Erde, er steht keinem persönlichen Lehrer mehr gegenüber. (Laotse: die Eins erzeugt die Zwei, die Zwei gebiert die Drei (Himmel – Erde – Mensch), Himmel und Erde übertragen den Zhongze in diesem Kontinuum, sie sind nun die Lehrer des Schülers geworden. Den letzten, dritten Samen erteilt zu der gegebenen Zeit der größte Lehrer: das Universum, der Kosmos, die Schöpfung. Dies geht einher mit dem Zurücklassen des physischen Körpers, das Tai Ji Feld des Adepten verbindet sich mit dem der Unendlichkeit, es kehrt heim zu den Räumen, aus denen es gekommen ist. „Unser höheres Streben ist es, unser Bemühen, über uns selbst hinauszuwachsen und unser höchstes Ziel völliger Erleuchtung zu verwirklichen, was uns unsterblich macht – nicht die Dauer einer unveränderlichen Einzelseele, deren ewiges Gleichsein uns vom Leben und Wachstum und von dem unendlichen Abenteuer des Geistes ausschließen und uns auf ewig zu Gefangenen unserer eigenen Beschränktheit machen würde.“ (Lama A. Govinda) Wir könnten auch „Erleuchtung“ durch „Erlichtung“ ersetzen ...
Der Weg zum Erreichen des Tao ist also ein stufenartiger, nicht ungefährlicher Prozess, der noch im Rahmen der körperlichen Existenz – vor dem letzten Zhongzhe - in einem Moment gipfelt, in dem sich alle Kräfte im Menschen sich der Ordnung des so genannten frühen Himmels gestalten, wodurch der Mensch eins mit dem Tao werden kann. Im Gegensatz zu einer linearen Entwicklung bedeutet die von Himmel und Erde erteilte Übertragung, dass die so genannte Unsterblichkeit kein Zustand sein muß, der nach einem langen Umwandlungsprozess auf das gewöhnliche Leben erfolgt, sondern auch eine Daseinsweise im Leben beschreiben kann, die möglicherweise begrenzte Dauer hat und sich alternierend mit dem gewöhnlichen Daseinszustand eines Menschen ereignen kann – so wie es das Gesetz des zyklischen Wandels von Yin und Yang andeutet. Die Vision einer endgültigen Vereinigung mit dem Tao ist in mit dem letzten Zhongzhe, erteilt durch den Kosmos, vorbehalten.  

„Und wovon ich immer ausgegangen bin, ich werde dorthin zurückkehren“ sagt die Göttin zu Parmenides in unserer westlichen Kultur.  

Die Yang – Seite der Sinne  

Der Chinesischen Philosophie zu Folge werden alle Menschen mit 12 Sinnen geboren (neben den uns im Westen bekannten Sinnen wie sehen, riechen, tasten, hören, schmecken gehört in der Chinesischen Tradition auch das Bewusstsein als sechster Sinn dazu); diese haben eine yin- und eine yang-funktion. Die yin-Funktion der Sinne ist auf die uns als Erwachsene bekannte Welt des Seienden, Materiellen gerichtet, die yang-Funktion auf das sublime, feinmaterielle, Allem zugrunde liegenden Sein. Wir wissen aus der Neurologie, das im ungefährem Alter von vier bis fünf Jahren in unserem Gehirn aus bisher unerklärlichen Gründen Milliarden von Nervenzellen inaktiv werden. Es handelt sich hierbei um die Deaktivierung der yang-Seite der Sinnesfunktionen. Da wir als Erwachsene diese Sinne nicht mehr wahrnehmen, werden sie in der Entwicklung des Säuglings auch nicht mehr gefördert – sie verschwinden fast, so wie die Muskeln bei einem sehr lange in Gips befindlichem Arm atrophieren (verkümmern). Möglicherweise kennen viele Eltern, das ihr kleines Kind, allein oder mit Haustieren etwas mit den Augen durch den Raum sich Bewegendes verfolgt und vielleicht Laute des Erstaunens von sich gibt – wir aber sehen dort nichts, obwohl Kind, Hund, Katze durch etwas uns er unsichtbar Erscheinendes wahrnehmen würden. Durch die Verwendung von Substantiven, die immer auf etwas materielles, durch unsere yin-Seite der Sinne wahrgenommenes hinweisen geht die Wahrnehmung der subtilen feinmateriellen Seite der uns umgebenden Welt im Kleinkind immer mehr verloren. Die Anlage der yang-Funktionen aber kann nie verloren gehen, so wie ein nicht benutzter Muskel sehr schwach werden, aber nicht verschwinden kann. Die zentrale Meditationsübung des Tai Ji Men fördert auf natürliche Weise die Wiedererweckung dieser verloren gegangenen Sinnesfunktionen: eine von uns Erwachsenen vergessene Welt wird nach einiger Übungsdisziplin wieder gegenwärtig – in gewisser Weise gewinnen wir unsere vollständige Existenz zurück. Seit fast zwanzig Jahren erforscht die staatliche Untersuchungskommission zur Untersuchung der Qi – Gong Wissenschaften in der VR China zeitweilig unter dem Vorsitz von Prof. Lu Jin Chuan, die Entwicklung paranormaler Fähigkeiten insbesondere bei praktizierenden jungen Menschen.  

(evtl. Einschub historische Entwicklung Mao, Beidahe – Sanatorium, „Qi – Gong – Fieber“, Massenmeditationen, Massenpublikationen, unkontrollierte und unerwartete Entwicklung, Mix von Mi – Buddhismus und Taoismus, Falun Gong und Unterdrückung) 

Schon vor Jahrtausenden entdeckte der Taoismus, daß in jeder menschlichen Körperzelle eine Vielfalt von Funktionen gespeichert ist, diese sind zum Teil in einem „schlafenden“ Zustand und wieder erweckbar durch die spontanen Bewegungen der Übungspraxis des Ta Ji Men. In der westlichen Medizin wissen wir erst seit kurzer Zeit, das große Teile der Erbsubstanz DNS, so genannte Telomere, überhaupt nicht aktiviert sind aber theoretisch ablesebereit zur Verfügung stehen!
Ich möchte dies an dieser Stelle an den Zellen der Hautoberfläche erläutern. Derart unglaublich wie es sich anhören mag: an zehntausenden von normalen Bürgern der VR China wurde nach andauernder Übungspraxis eine bis dahin unbekannte Sinnesfunktion der Hautzellen gefunden: Jede untersuchte Person konnte große Buchstaben mit jeder nicht vernarbten oder beschädigten Hautzone lesen, auch mit nicht verhornten Fußsohlen. Ein scharfes, focussiertes Sehen ist durch die nicht vorhandenen Gewebe wie Linse, Glaskörper und Netzhaut des normalen menschlichen Augenapparates verständlicherweise nicht zu erreichen. Bekannterweise tragen fast alle hoch entwickelten Kampfkünstler wie z.B. in der Tradition der Shaolin – Mönche eine Glatze – um in der Verteidigung oder im Angriff eine gewisse Rundumsicht zu haben: schemenhafterweise nehmen sie auch Bewegungen hinter sich war und können darauf entsprechend reagieren.
Um ein im Westen bekanntes Beispiel zu erwähnen, das auch in unserer Wissenschaft als gut erforscht gilt: fast jeder Mensch kennt das Gefühl von hinten angestarrt zu werden und entdeckt beim Zurückblicken, das dies oftmals der Fall ist... Diese Beispiele lassen sich zahllos vermehren. Im Taoismus nennt man diese Fähigkeiten, die ihre Erklärung in der Wiedererweckung der yang-Funktionen der Sinne finden, „Wundertechniken“ oder fashu. Auf ihre Anwendung wird im Tai Ji Men keine Bedeutung gelegt, im Gegenteil: sie trüben „die Linse“, das Bewusstsein als sechste Sinnesfunktion (mit yin- und yang-Funktion) in der chinesischen traditionellen Philosophie. Eine Ausnahme bildet die Chi – Medizin, in der die Anwendung der yang-Funktionen in der Diagnose und Behandlung von Krankheit eine bedeutende Rolle spielt. Auch besitzen Kleinkinder, manche von uns als psychisch erkrankt bezeichnete Menschen und selten Opfer von Unfällen oft zeitweise solche Fähigkeiten und werden von uns – da wir diese Wahrnehmungen fast völlig verloren haben – als „verrückt“ diagnostiziert. Oft werden dämpfende Medikamente, oft starke Neuroleptika, eingesetzt um diese Funktionen zu unterdrücken. Im Gegensatz dazu sind in sehr alten Kulturen die entrückten Schamanen die Ratgeber der Gemeinschaft; diese versetzen sich oft rituell in Tranze und Extase, um Krankheiten zu heilen oder die Lösung von Problemen zu finden. Die Offenlegung dieser vollständigen Sinne birgt jedoch auch Verführungen und Gefahren des Missbrauchs mit sich.  

Das Chi als Schlüssel zum Verständnis der asiatischen Traditionen  

Wie aus meinen persönlichen Schilderungen hervorgeht, ist der Begriff des Chi, im Westen zumeist in begrenzender Interpretation als „Energie“ übersetzt, grundlegend zum Begreifen des unermesslich weiten, alten, auf jahrtausendelanger Überlieferung beruhenden Wissens, das weit über unser auf materielle Vorgänge fixiertes Verständnis der uns umgebenden Weltwirklichkeit hinausreicht. Bevor ich diesen Begriff als Schlüssel verwende, um die hohen Schulen des Taoismus zu erläutern, werde ich diesen Terminus zu erläutern versuchen.  

Exkurs über das Chi    

Der Begriff einer Lebenskraft bzw. Lebensenergie hat sich im nicht nichtabendländischen Kulturkreis unter den verschiedenen, nachfolgend nur in Ausschnitten aufgeführten Termini niedergeschlagen:

Jüdischer Kulturkreis.............cheim
Islamischer Kulturkreis..........ruh
Hinduistischer Kulturkreis.....akasha 
 
Ägypten..................................ka, ga-ilama
China......................................Chi
Indien.....................................prana
Tibet.......................................mana
Hawaii....................................mana mana  

In der griechischen Philosophie führten die Mieser Thales (625-545 v. Chr.) und Anaximedes (585-528 v. Chr.) alles Seiende als eine  feinen Urstoff, ähnlich dem Wasser oder der Luft zurück. Es ergaben sich innerhalb der griechischen Philosophie zwei Ansichten. Die eine ging davon aus, das "alles ruht", wie Parmenides aus Elea (540-470 v. Chr.), die andere behauptete "alles fließt" wie Heraklit. Grundlegend herrschte eine Philosophie vor, die alles Seiende als eine Kombination von Feuer, Wasser, Erde und Luft hielt, wobei den Elementen Feuer und Wasser eine besondere Bedeutung zukam. Es ergaben sich zwei Richtungen: Die eine bevorzugte die Partikelvorstellung, assoziiert mit der Kraft des Feuers, weil es alle Dinge zerteilt. Die andere bevorzugte ein fließendes, alles durchdringendes Konzept, das von Aristoteles als "Äther" bezeichnet wurde.  

Im westlichen, bereits naturwissenschaftlich geprägten Kulturkreis kristallisierte sich mit der Aufstellung des Energie -  Erhaltungssatzes gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Energiebegriff, der vom Wort energeia ausgehend in der Paarung mit Dynamis zu einer höheren, göttlichen Kraft mutierte, der je nach weltbildlichem Konzept mit verschiedenen Bezeichnungen wie vis operandie, vis divina gleichgesetzt wurde. Der Begriff energeia und seine Entlehnungen in germanischen und romanischen Sprachen der Neuzeit entwickelte sich von einem pantheistischem Konzept zu einer abstrakten Größe, die berechenbar wurde oder zu sein erschien, solange es für einen begrenzten oder definierbaren Raum galt. Die Grundlage der energetischen Theorien, die auch im 20. Jahrhundert vor allem durch den Arzt und Naturforscher Wilhelm Reich (1897-1957) wiederentdeckt und weiterentwickelt wurden, haben der Chemiker und Philosoph Wilhelm Ostwald ( 1853-1932) und der Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834-1919) gelegt. Ostwald erhielt für seine Forschungen zur Katalyse 1909 den Nobelpreis für Chemie. Er war ein Gegner der Atomtheorie auf der Grundlage einer materialistisch orientierten Erkenntnisgewinnung. Seine natur- und geisteswissenschaftlichen Auffassungen sind als Energetik oder als energetischer Monismus bekannt. Haeckel schrieb Grundlagenwerke zur monistischen Philosophie und nannte die Lebenskraft "inponderable Materie".  

Der o.g. Monismus ist als grundlegendes Konzept bei vielen Philosophen durch die Jahrtausende zu finden. Der Begriff ist griechischer Herkunft und leitet sich von dem Begriff "mono" ab, was "allein" oder "einzeln" bedeutet Er versucht im Gegensatz zu den dualistischen Konzepten, die Vielfältigkeit der Welt auf eine einzige Wirkkraft zurückzuführen. Seine gedankliche Grundlage ist auch die Forschung nach einem einheitlichen Urstoff. Mit den Veröffentlichungen Ostwalds und Haeckels bekam allerdings der Monismus wieder eine stärkere geistige und psychische Komponente, was dazu führte, dass der Begriff der Energie gleichzeitig in eine materialistisch-rationale und psychisch-idealistische Theorie eingebettet wurde. Er wurde hier wieder, nun aber im inzwischen naturwissenschaftlichen Europa, zum Ausdruck für eine alles bewegende Kraft, die sowohl spirituell als auch naturwissenschaftlich aufgefasst werden konnte. Dies lieferte die Grundlage für die Ausweitung des Begriffs in den psychologischen Bereich, deren bekannteste Wegbereiter später Sigmund Freud und Carl Gustav Jung waren. Der wohl bedeutendste Schüler Freuds, Wilhelm Reich, widmete sein Lebenswerk der Übertragung und Grundlegung des Libidokonzepts seines Lehrers in die Entwicklung fundamental neuer Ansätze in der psychosomatischen und später energetischen Medizin. Reich führte in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren Mitte des vergangenen Jahrhunderts naturwissenschaftliche Experimente im Bereich der Mikrobiologie, Bioelektrizität, Physik, Meteorologie zum Nachweis einer primordialen, d.h. allen Naturerscheinungen und -vorgängen zugrunde liegenden Energieform, die er Orgon" nannte, durch. Seine hierdurch gewonnenen Erkenntnisse führten ihn als Arzt auch zur erfolgreichen Anwendung dieses Wissens u.a. in der Krebstherapie schulmedizinisch nicht mehr behandelbarer Patienten. Wilhelm Reichs theoretisch zunächst bedeutsamster Ausgangspunkt ist außer bei seinem zeitweiligem geistigem Mentor Sigmund Freud v.a. bei dem französischem Philosophen Henri Bergson (1859-1941) zu finden, dessen Konzept eines elan vitale bedeutenden Einfluss ausübte.  Er vertrat ebenfalls die Ansicht, dass allem organischen Leben eine besondere Lebenskraft innewohnte, die wahrnehmbaren chemischen und physikalischen Vorgänge übersteigt und daher allen biologischen Vorgängen übergeordnet sein muss.  Bergson ist wohl der einzige Monist, dessen Werk im Chinesischen Kulturkreis aufgrund der vorhandenen Ähnlichkeit mit dem Chi - Konzept der ältesten ungebrochenen Kulturtradition der Menschheit, dem Taoismus, gleichesetzt werden kann. Interessanterweise hat sich Wilhelm Reich, dessen Bücher nie in der VR China übersetzt wurde, erst gegen Ende seines Lebens mit der asiatischen Kultur auseinandergesetzt, allerdings waren die Lebensenergiekonzepte des Taoismus auch unter der damaligen politischen Führung zum ersten Male seit fast 5000 Jahren ungebrochener Tradition für mehrere Jahrzehnte unterdrückt und kamen erst durch die aus ökonomisch motivierten staatlichen Interessen eingeführte Chigong - Bewegung Anfang der achtziger Jahre wieder zum Vorschein. Die verblüffende erscheinende Ähnlichkeit des Orgon- und des Chi-Konzepts fanden auch in den Aussagen der Tochter, Ärztin und Mitarbeiterin Reichs, Dr. Eva Reich und des Stammhalters der höchsten philosophischen Schule des Taoismus, Prof. Dr. Lu Jinchuan, ihren Niederschlag. Erstere erklärte, dass der Taoismus Jahrtausende von Jahren sich der Erforschung der Lebensenergie und den Naturerscheinungen widmen konnte, und das ihr Vater dafür nur sechzig Jahre zur Verfügung gestanden haben, Letzterer erklärte nach der Privatübersetzung des Spätwerks Wilhelm Reichs aus der englischen in die chinesische Sprache durch seine Schüler, das er Reich für den am Weitesten gekommenen Forscher des Westens halten würde. Auf der Grundlage dieser Aussagen werde ich nach der ausschnittartigen historischen Herleitung des westlichen Lebensenergiekonzeptes auf das Wissen der Chinesischen Kultur über das Chi vertiefend eingehen.

Chi-Konzepte im Daoismus  

Übersetzungen von Chi "Chi" wurde und wird im angloamerikanischen Raum fast immer mit "Energie" übersetzt und allgemeinsprachig dem Begriff einer "Lebensenergie" gleichgesetzt. In Wirklichkeit bezeichnet Chi, nur im Kontext übersetzbar, den gesamten Kreislauf der Transformation des Wassers vom Grundwasser hinauf in die Welt der Pflanzen, vom Tautropfen zum Nebel über den Feldern, vom Nebel bis zum Aufstieg durch Verdunstung zu der Bildung von Wolken am Himmel, von der Verdichtung der Wolken bis zum Herabregnen auf die Erde, von dem Einsickern bis zum Grundwasser in der Tiefe, vom Aufstieg in die pflanzliche Welt bis zur Verdunstung. Die Chinesische Kalligraphie für Chi zeigt symbolisch die Nebeltropfen über den Reisfeldern. Weitere in der westlichen Literatur zu findende Übersetzungen sind: Leben spendendes Prinzip, Veranlagung, Kraft, Dampf, Gas, Wetter, Luft, Einflüsse, Atem oder materielle Kraft. Im Vergleich dazu sind in der Gesamtenzyklopädie der Chinesischen Sprache, dem Zhongwen Dazi-dian, 21 verschiedene Eintragungen zur Bedeutung von Chi als einzelnem Zeichen zu finden. Interessant ist auch die Verwendung des Wortes Chi in Binomen:

Barometer – Chijaji Lufttemperatur - Chiwen
Luft schnappen – Chiji
Wetter  Chixiang (wörtlich "Chi-Bild")
ärgerlich sein – shengChi
Hass – Chihen
Psychische und physische Disposition – Chixing
Natürliche Begabung/Veranlagung – Chibin
Melancholie – Chijie (wörtlich Chi-Verklebung)
Moralische, charakterliche Veranlagung – Chizhi
Angeborene Konstitution – yuanchi (im klassischen Kontext: "ursprüngliches Chi")

Neben den philologischen Erklärungen des Piktogramms Chi im Wörterbuch "Shouen" scheint sich das Bedeutungsspektrum von "Chi" in der traditionellen Chinesischen Medizin und in den Naturwissenschaften zu einem außerordentlich großen Spektrum verbreitert zu haben. Die Verwendbarkeit als Binomen führte zu einer Anwendung in verschiedensten Wissensbereichen, damit aber auch zu einer Vermischung von Bedeutungen. Unterschiedlichste Konzepte wurden unter einem Dach – dem Begriff des "Chi" – zusammengeführt, die weitgehend unklar erscheinen und bisher keine einheitliche Definition in westlichen Sprachen zulassen. "Das gilt auch für die traditionelle chinesische Medizin, denn wenn man die beiden Bücher des wohl ältesten und wichtigsten Gesamtwerkes der Chinesischen Medizin, des ‚Huangdi Neijing' (Der innere Klassiker des gelben Kaisers) und seine beiden Teile ‚Suwen' (Reine Fragen) und ‚Lingshu' (Geisthafte Problemstellungen) untersucht, wird man feststellen, dass in diesem Werk zwar mit einem Konzept von Chi gearbeitet wird, allerdings nirgends und niemals je erklärt wird, was Chi als solches eigentlich ist. Spezifizierungen werden lediglich hinsichtlich der Wirkung von Chi oder der verschiedenen Ausformungen des natürlichen Erscheinungsbildes von Chi in der Natur oder innerhalb des Körpers gemacht." Im Folgenden werde ich den Versuch einer philosophischen Klärung des Begriffs Chi in der Tradition der bis in die Mitte der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts geheim gehaltenen Schule des Taiji Men versuchen. Taiji bedeutet "vor dem Anfang und nach dem Ende der Existenz". Der Begriff  taiji wurde in der chinesischen Literatur zum ersten Male von Dschuangtse verwendet. Ursprünglich waren ihm verschiedene Bedeutungen zugeordnet. So konnte taiji den Himmel oder ein ursprüngliches Prinzip bezeichnen oder war in die Phasen der Weltentstehung eingegliedert. Im siebenten Jahrhundert n. Chr. trat dieser Begriff immer mehr in metaphysischer und kosmologischer Bedeutung in Erscheinung und wurde als das „Allerhöchste“ verwendet.
Auch wurde der dem Menschen angeborene Funke spirituellen, ja geistigen Lichtes so bezeichnet, dieser ist der Gestalt und Persönlichkeit übergeordnet. Das taiji wird auf diese Weise über die Erscheinungswelt erhöht, ist aber dennoch insofern Bestandteil der Erscheinungswelt, als es etwas Seiendes darstellt und erst mit der Zeugung im Menschen angelegt wird, also zu dem Zeitpunkt, an dem ein Individuum Gestalt gewinnt. Anders verhält es sich mit dem Begriff der höchsten Leere (wuji), die schon vor der Zeugung besteht, aus diesem Grunde vom Gestalthaften vollkommen unabhängig ist. In alchemistischen Texten taoistischer Schulen ist taiji auch das ursprüngliche Antlitz eines Menschen, der Wesenskern, der den wahren Menschen kennzeichnet und unabhängig von dessen leiblich-seelischer Gestalt besteht.  Men bedeutet Tor. Diese Schule ist in der Volksrepublik China die anerkannt höchste philosophische Schule des Taoismus. Tai Ji Men unterteilt den Bereich der gesamten, auch der für uns nicht wahrnehmbaren Welt in zwei verschiedene Sphären: der des wu (des Nichts) und der des you (der Existenz). Alle Dinge, d.h. auch die menschliche Existenz, kommen aus dem Wu, existieren nach der Zeugung für einige Zeit im You, um dann im Verlöschen, dem Tod, zurückzukehren in das Wu. Das diesen Prozess (vom Wu zum You zum Wu) vermittelnde und überbrückende Agens ist Chi. Je näher das Chi sich dem Bereich der Materie (You, der Existenz) nähert, desto dichter wird und interagiert es mit den Gesetzen der für uns erfahrbaren Wirklichkeit. So ist das Chi, das bestimmte chinesische Heiler und Kampfkünstler durch ihre Hände abstrahlen können (waichi – das harte Chi) wissenschaftlich nachweisbar und wird seit mehr als zehn Jahren von der staatlichen Untersuchungskommission für Chigong-Wissenschaften erforscht. Tatsächlich handelt es sich hier um eine sehr einfache, lenkbare Funktion. Sanftes, heilendes Chi, das fortgeschrittene Heiler einsetzen, kann bisher nicht wissenschaftlich messbar erfasst werden; seine Effekte in Bezug auf die Hemmung von Bakterienwachstum und der Steigerung der Sprossung von Samen verschiedenster Pflanzenarten ist jedoch einwandfrei dokumentiert. Infrarot- und Magnetfeldmessungen zeigen hier im Gegensatz kein Ergebnis.

Das Chi erfahren  

Um einen (zu) einfachen Vergleich zu versuchen: wenn Chi einige Eigenschaften des Wassers haben sollte, so hätte es auch flüssige, gasförmige und kristalline Aggregatzustände – doch hat es zahlreiche mehr. Menschen können das Chi unter besonderen, aber einfach herzustellenden Umständen wie einen bewegten Ozean von Wasser oder Luft erfahren. Es jedoch im übertragenen Sinne zu Eis gefrieren zu lassen, um damit in Kampfkunst und Medizin umzugehen, erfordert jahrelange Übung: dies gilt umso mehr für den subtilen, gasförmigen Zustand. Der Philosophie des Tai Ji Men entsprechend werden die Menschen vom Universum erschaffen, und der menschliche Körper stellt einen Mikrokosmos dieses Makrokosmos dar. Die Strukturen des Organismus korrespondieren mit den Strukturen der natürlichen Welt. In der Natur unterstützt das Wasser der Flüsse und Seen alle lebenden Dinge, so wie das Blut im Körper alle Zellen und Organe nährt. In diesem Bild entsprechen das Wasser und die Flüsse dem Blut und den Adern der organischen Welt. Darüber hinaus gibt es noch die Luft, unsichtbar, aber von fundamentaler Bedeutung für den überwiegenden Teil der Existenz auf diesem Planeten. Metaphorisch entspricht sie dem Chi. Wie können wir die Luft erfahren, wie kann man das Chi erfahren? Wir können die Existenz der Luft nicht fühlen, solange sie unbewegt ist oder wir uns selbst nicht bewegen. In dem Moment, in dem die Luft sich in Bezug auf uns bewegt und zu einem Luftzug oder Wind anschwillt, können wir sie fühlen. Metaphorisch verhält es sich in gleicher Weise mit dem Chi. Wenn das Chi den Körper bewegt, wird der Körper in bestimmte Bewegungen kommen, und der Mensch ist in der Lage, es zu fühlen. Die Übungsmethode hierzu bilden die so genannten "spontanen Bewegungen des Taiji Men". Shi Fang Wu Ji Dang (spontane Bewegungen in einem besonderen Zustand) oder die Praxis von Wu wei sind die Hauptmethode der Selbstbehandlung in der Chi Dao Medizin. Nach vollständiger, durchgehender Entspannung werden die Selbstheilungskräfte der Patienten wieder aktiviert, so dass diese Krankheiten sich selbst ausheilen können. Diese Methode kann einen sehr großen Bereich von Erkrankungen heilen. Insgesamt betrachtet beeinflusst sie jede menschliche Krankheit. Die entscheidenden Faktoren sind erstens der Grad der Entspannung, die ein Patient erreichen kann, und der Schweregrad der Erkrankung.   Zum Wuwei   Alle der Stille zugewandte Aktivität wird als wuwei, alle zur Sinneswelt gerichtete Aktivität als youwei bezeichnet; es handelt sich bei dieser Gegensätzlichkeit um Handeln und Vollbringen bzw. um Nichthandeln oder Ruhen. Wo aber der Mensch nicht handelt, sondern ruht, da wirkt und schafft die Natur (ziran) aus ihrem eigenen Antagonismus von Sein und Nichts, und je nachdem, was vorherrscht, ergibt sich youwei – das Sein wirkt – oder wuwei – das Nichts wirkt. Da der Mensch als existierendes Lebewesen selbst zum Sein gehört, so handelt in seinem gewöhnlichen Handeln das Sein gewissermaßen immer mit, nicht aber das Nichts.  Dadurch kommt ein gewisses ontologisches Ungleichgewicht in alle Dinge, die der Mensch unternimmt. Er kann aber seinerseits etwas dazu tun, dass dieses Ungleichgewicht aufgehoben wird, nämlich eben dadurch, dass er auch dem Nichts die Gelegenheit verschafft, sich in der Wirklichkeit Geltung zu verschaffen. Eben dies geschieht, wenn er nicht handelt,  das Nichts zur Wirkung gelangen lässt, denn so können wuwei und youwei in ein Gleichgewicht kommen. Dies ist der Grundgedanke der Philosophie Laotses. Um aber einem Missverständnis entgegenzuwirken, das in der abendländischen Kultur verbreitet ist: weit davon entfernt, zum „Nicht-Handeln“ aufzurufen, schätzt Laotse ab, wo zu handeln und wo nicht zu handeln ist. Und das bedeutet, eventuell in die Natur der Sachen so einzugreifen, dass sie sich entweder von selbst entwickeln oder dass ihre natürliche Entwicklung gefördert und unterstützt wird. Selbstentwicklung und Selbstregulation aber ist nicht nur das Wirken des Seins (youwei) sondern auch das Wirken des Nichts (wuwei). Ersichtlich ist wuwei dort am stärksten, wo etwas (aus dem Nichts) entsteht und wo es wieder (ins Nichts) vergeht. Deshalb ist die Aufmerksamkeit dieser Philosophie auf die Beginne und Anfänge und auf das Scheitern und den Tod gerichtet. Durch das Umgehen damit folgt der Mensch dem Weg des Tao. In den Worten Laotses: „Was noch ruhig ist, lässt sich leicht ergreifen. Was noch nicht hervortritt, lässt sich leicht bedenken. Was noch zart ist, lässt sich leicht zerbrechen. Was noch klein ist, lässt sich leicht wegmachen. Man muss auf das Einwirken, was noch nicht da ist. Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung geraten ist. Ein Baum von einem Klafter Umfang entsteht aus einem haarfeinen Hälmchen. Ein neun Stufen hoher Turm entsteht aus einem Häufchen Erde. Eine tausend Meilen weite Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Wer festhält, verliert. Darum handelt der echte Mensch durch das Nichts.“  - noch einmal: zur Wirkung-gelangen-lassen des Nichts...   

Das Chi in der Heilkunst 
 
Wie oben erwähnt, kann Chi auch zur Behandlung menschlicher Erkrankungen eingesetzt werden. Zwischen westlicher Medizin, traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) und Chi-Medizin bestehen hier bedeutsame Unterschiede. Westliche Medizin beruht auf der Behandlung vorliegender körperlicher Störungen. Im letzten Jahrzehnt wurde versucht, auch nahezu alle psychischen Erkrankungen auf eine physische Störung der Überträgerstoffe im Gehirn zurückzuführen. Die westliche Medizin beruht auf naturwissenschaftlichen Vorstellungen und Erkenntnissen darüber, wo sich ein Organ befindet und wie es zellulär funktioniert. Man kann sie als Organmedizin bezeichnen. TCM basiert auf den funktionellen Erscheinungen der Organe. Diese Medizin bezieht sich nicht auf die physische Existenz der Organe, sondern auf ihre Funktionen. In der TCM befindet sich z.B. die Leber auf der linken Seite – obwohl die physische Leber auf der rechten Seite lokalisiert ist, erscheinen ihre Funktionen auf der linken. Für diese medizinische Richtung ist es nicht ausschlaggebend, wo exakt ein Organ sich im menschlichen Körper befindet, wichtig sind vielmehr seine den gesamten Organismus beeinflussenden Funktionen. Die TCM kann also als eine Organerscheinungs-Medizin betrachtet werden. Für die Chi-Medizin ist weder die nach westlicher Ansicht bedeutsame Lage noch der Blickwinkel der TCM auf die Funktion das Entscheidende. Bedeutsam ist das Chi-Feld des Organs, man könnte sogar sagen: der Geist des Organs. Nicht die exakte Lokalisation der Leber noch die Funktionen sind in dieser Herangehensweise das Wesentliche. Entscheidend ist die Lage und die Ordnungsstruktur des Chi-Feldes.   Ein Exkurs über die Chi-Medizin   Um diesen zentralen, im Westen unbekannten Ansatz zu vertiefen, werde ich im Folgenden auf die Vorstellung der Chi-Medizin am Beispiel des menschlichen Herzens eingehen. Wenn darin geistige und körperliche Aspekte angesprochen werden, gilt es zu bedenken, dass in der taoistischen Philosophie beide Aspekte eins sind. Vereinfacht ausgedrückt ist der geistige Aspekt die Kraft, die dafür sorgt, dass verschiedene Elemente als Einheit zusammenarbeiten. Beide Aspekte haben Auswirkungen aufeinander, entwickeln und durchdringen einander. Die grundlegenden taoistischen Vorstellungen über das Leben bilden den Schlüssel zur Chi-Medizin. Dazu zitiere ich ausführlich Tom Zhang und Carol Yeung, Schüler von Lu Jinchuan. "Wir kennen die folgenden beiden Fakten über unser Leben: es gibt Leben in einem menschlichen Körper, und: unser Körper besteht aus vielen Zellen. Da wir sicher sind, dass Punkt 1 wahr ist, hat dann nicht auch jede Zelle ein Leben? Wie könnte sonst ein ganzer und vollständiger Körper Leben besitzen? Daher müssen wir einen weiteren Punkt hinzufügen: jede Zelle hat ein Leben. Genauso ist jeder Teil des Universums eine ‚Zelle' des Universums und jedes einzelne Leben auch ein Teil des Lebens des Universums. Gemäß diesen Schlussfolgerungen können in der Chi-Dao-Medizin alle Formen des Lebens auf drei Ebenen analysiert werden. Die erste Ebene der Lebensformen sind die Dinge und Wesen, so wie wir ihnen begegnen. Sie werden He Sheng (zusammengesetztes Leben) genannt, denn alles Leben ist aus einfachem primärem Leben zusammengesetzt. Die zweite Ebene der Lebensformen sind jene, die noch einfacher sind. Sie werden Fen Sheng (geteilte Leben) genannt, und aus ihnen ist He Sheng (zusammengesetztes Leben) gebildet. Der dritten Ebene der Lebensformen, die Zong Sheng (universelle Leben) genannt wird, liegt die erste Ebene der Lebensformen (zusammengesetztes Leben) zugrunde. (He Sheng sind die Fen Sheng der Zong Sheng.) Das Leben eines menschlichen Körpers z.B. ist das He Sheng (zusammengesetztes Leben), die Leben der Körperzellen sind die Fen Sheng (geteilte Leben) und das Leben des ganzen menschlichen Wesens ist das Zong Sheng (universelles Leben). Nachdem wir alle Lebewesen mittels dieser Methode analysiert haben, kommen wir zu den folgenden Schlussfolgerungen: Die Erzeugung eines Lebens ist gleichzeitig die Erzeugung der Leben vieler Zellen. Im Leben eines Körpers, beispielsweise der körperlichen und biologischen Existenz einer Person, gibt es die Leben vieler Zellen. In einem Leben gibt es viele Geburten und Tode. Jeden Tag entstehen und sterben Zellen im Körper. Also ist mein Leben eine Zusammenkunft der Leben von vielen Lebewesen. Auf die gleiche Weise besteht das Leben eines Körpers aus dem Leben der Organe. Da der geistige und körperliche Aspekt eins sind, gibt es darüber hinaus Körperformen in einer körperlichen Form und Geistformen in einer geistigen Form. Daraus schließen wir, dass der physische Körper auch geistig ist, ebenso wie die Organe oder Gewebe auch geistig sind. Denn wenn eine Organ keinen Geist hat, wie können dann alle Zellen der Organe zusammenarbeiten, um ihre Aufgaben zu erfüllen? Der menschliche Körper besteht physisch aus Zellen, Gewebe und Organen. Der Geist des menschlichen Körpers besteht auch aus den Geistern seiner Zellen, Gewebe und Organe. Auf höherer Ebene der Chi-Dao-Medizin konzentriert sich die Forschungstätigkeit hauptsächlich auf die Geister der Organe. Einer der offensichtlichsten Unterschiede in den Ergebnissen, die durch physikalische im Gegensatz zu geistigen Methoden gewonnen wurden, ist die Ansicht, welcher Teil des menschlichen Wesens denkt. In der westlichen Medizin ist bekannt, dass das Denken durch das Gehirn geschieht, das auch die Kommandozentrale des menschlichen Körpers ist. Die traditionelle Chinesische Medizin und die Chi-Dao-Medizin sind dagegen der Ansicht, dass das Herz Xin die Gedanken kontrolliert. Die Aufmerksamkeit und das Herz sind hier nicht der Ort des Denkens, sondern der Ort, von dem aus das Denken kontrolliert wird. Das Herz ist nicht das Herzorgan, das hauptsächlich für den Blutkreislauf verantwortlich ist, sondern die Herzgegend, die in der Nähe des Herzens und in der Mitte der Brust lokalisiert ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, werden wir Xin, das Chinesische Wort für Herz, verwenden, um diese Bedeutung zu vermitteln. Wenn wir untersuchen, wo die Kommandozentrale des menschlichen Körpers liegt, und wenn bei dieser Untersuchung subjektive Erfahrungen eine wesentliche Rolle spielen, dann stellen wir fest, dass Xin der gesuchte Ort ist. Im allgemeinen beobachten wir, dass es uns glücklich macht, wenn wir etwas Gutes hören, und dass es uns traurig macht, wenn wir etwas Schlechtes oder Bestürzendes hören. Die erste Reaktion des menschlichen Körpers wird nicht vom Kopf her gesteuert, sondern vom Xin her. Als erstes werden wir der Gefühle oder Empfindungen in unserer Brustgegend gewahr. Dies löst dann eine Kettenreaktion aus. Unser Verstand fängt an zu denken. Wenn das Xin nicht ruhig und friedlich ist, kann der Denkprozess in unserem Verstand nicht ruhig sein. Zorn hört z.B. nicht auf die Argumente des Verstandes, sondern auf unser Xin. Wenn wir zornig werden, spürt unser Xin das als erstes. (…)
Wenn das Herz sich nicht beruhigt, wird der Zorn nicht verschwinden. Ein anderes Beispiel ist ein Fußgänger, der eine Straße überquert. Wenn plötzlich direkt vor ihm ein schnelles Motorrad auftaucht, wird als erstes sein Xin reagieren und er wird einen anfänglichen Schock oder Schrecken bekommen. Diese Reaktion wird dann auf das Gehirn übertragen, das ihm sagen wird, dass er aus dem Weg gehen soll. Warum betrachtet die objektive Methode der abendländischen Medizin das Gehirn als Ort des Denkens und als Kontrollstelle des ganzen Körpers? Das Gehirn ist das Nervenzentrum, von dem aus alle Nerven über den ganzen Körper verteilt werden. Der Großteil des Informationsaustauschs im Nervensystem wird durch das Gehirn gesteuert. Wenn ein Teil des Gehirns abgeschnitten oder blockiert ist, bedeutet das für den korrespondierenden Teil der menschlichen Körperfunktionen, dass er lahmgelegt wird. Was ist nun das wahre Zentrum des menschlichen Körpers, das Xin oder das Gehirn? (…) Die Forschungstätigkeit der Menschen kann in drei Bereiche unterteilt werden. Es gibt den makroskopischen Forschungsbereich, in dem Gegenstände viel größer sind als im normalen alltäglichen Leben, und den mikroskopischen Bereich, in dem Gegenstände viel kleiner sind. Der dritte Bereich ist die alltägliche Ansicht des Lebens. Die meisten abendländischen Wissenschaftler ziehen nur aus dem dritten Bereich Erfahrungen spiritueller Tiefe und Verständnis. Der erste und zweite Bereich erscheint ihnen zu physisch. Gehirnforschung oder die Suche nach dem Zentrum des menschlichen Körpers gehört hauptsächlich in den zweiten Bereich. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Forschung der spirituellen Art betrieben wird, werden wir ein Beispiel verwenden, das zum dritten Bereich gehört, um den spirituellen Charakter der zum zweiten Bereich gehörenden Dinge zu erläutern. Als Beispiel analysieren wir die Struktur eines Wirtschaftsunternehmens. Die physische Struktur sind die Vermögensgegenstände dieses Unternehmens, wie das Gebäude, die Anzahl der Angestellten und Arbeiter und die Kommunikationswege, d.h. wie die Kabel und Kommunikationskanäle verteilt sind. Die geistige Struktur ist der Managementstil, die Intelligenz der Arbeitgeber etc. Mit der physischen Forschungsmethode kann man Bewegungen in diesem Unternehmen beobachten, z.B. alle Kabelsignale analysieren, aber Sie können sich dadurch nicht mit einer Person in dieser Firma verständigen oder Dokumente der Firma lesen. Nach Untersuchung der physischen Methode können Sie zu dem Schluss kommen, dass die Kommandozentrale der Firma in demjenigen Büro liegt, in dem sich die meisten Computer befinden. Vielleicht laufen die Kommunikationskabel, Kanäle und Systeme des ganzen Unternehmens in diesem zentralen Büro zusammen. Wenn einige Computer und Informationen in diesem Büro abgetrennt oder blockiert sind, dann sind die mit ihnen zusammenhängenden Unternehmensteile handlungsunfähig. Diese Art von Analyse kann in Wirklichkeit jedoch nicht beweisen, dass dieses Büro die Kommandozentrale des Unternehmens ist. Wenn wir die Anzahl der Kabel und Verbindungen im ganzen Unternehmen untersuchen, mag vielleicht nur ein Kabel in das Büro des Vorstandsvorsitzenden gehen. Wenn wir die Anzahl der Telefonate des Vorstandsvorsitzenden mit denen in anderen Büros vergleichen, stellen wir vielleicht fest, dass er weniger telefoniert als seine Angestellten. Seine Telefonate sind jedoch viel wichtiger und entscheidender. Diesen Unterschied können wir nicht mittels physischer Forschung feststellen, sondern nur durch Kenntnis des Inhalts. Es ist sogar möglich, dass der wahre Eigentümer dieses Unternehmens nicht dort arbeitet. Vielleicht setzt er sich nur einmal im Monat oder in bestimmten Abständen mit dem Vorstandsvorsitzenden in Verbindung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er nicht die Kontrolle über das Unternehmen hätte. Nun verstehen wir, dass wir spirituelle Forschung nicht durch physische Forschung ersetzen können. Um mehr von der wahren Eigenschaft des Unternehmens zu erfahren, müssen wir es von so vielen Blickwinkeln wie möglich beobachten, und das schließt sowohl den spirituellen als auch den physischen Weg ein. Verglichen mit den physischen Elementen sind die spirituellen nicht greifbar, sondern abstrakt und unsichtbar."

Die fünf philosophischen Schulen des Taoismus  

Die traditionellen, über Jahrtausende tradierten Schulen der chinesischen Kultur haben taoistische und buddhistische Grundlagen und Wurzeln. Der Rang der jeweiligen Schule wird durch die Reinheit, d.h. Ursprünglichkeit der Prinzipien beurteilt. Im Buddhismus sind diese in den direkten Überlieferungen des Buddha, insbesondere dem Diamant- und Herzsutra niedergelegt, beide sind im Tai Ji Men hochgeachtet. Im Taoismus gilt die Lehre des Taoteking als maßgeblich und der Verfasser Laotse als Ahnherr verehrt. Das von einem oder zahlreichen Autoren verfasste I Ching und Dschuangstes „Buch vom südlichen Blütenland“ nehmen ebenfalls einen hohen Rang in der Auslegung von Inhalten ein. Die höchsten Schulen beider Philosophien haben „wuwei“, „Nicht – Handeln“, als unumstößlichen Grundsatz. Es handelt sich hierbei um die Erfahrung der Durchdringung des Seins durch das Nichts, was der Erfahrung des Verschmelzens mit dem Urgrund unserer Existenz gleichbedeutend ist. Chan im Buddhismus praktiziert eine reine Weltabgewandheit (wu – wu – wu), Tai Ji Men einen ständigen Wechsel von zu Zu- und Abwendung von der Existenz (wu – you – wu – you – wu).  

Graphik: wu – wuyou – you – youwu, Tai Ji, Chi, Orgon, Ideen, platonische Körper.   Im Tai Ji Men wird versucht, das durch die Erfahrung des Nichts (wu) Erlebte in dem Bereich der Existenz (you) anzuwenden, zu verwirklichen, es wird ein anhaltender Wechsel zwischen den beiden Bereichen angestrebt. Im Gegensatz zum Chan, das mit einer Hinwendung zu einem weltabgewandten Leben einhergeht, versucht der Schüler des Tai Ji Men seine Erfahrungen und das damit einhergehende Wissen um das Chi in den Bereichen Philosophie, Medizin, Kampfkunst, Kalligraphie und Choreographie umzusetzen. Interessanterweise haben sich die beiden höchsten Schulen des Buddhismus und Taoismus niemals den Rang streitig gemacht – über Jahrtausende verneigen sich ihre Stammhalter voreinander und sehen rituell die jeweils andere Schule ihrer eigenen als übergeordnet an.  

Zitat Konrad Adenauer Stiftung (...)  

Über viele meiner persönlichen Erfahrungen im Tai Ji Men habe ich bereits berichtet, deshalb will ich im Folgendem auf das theoretische Fundament dieser und der vier weiteren Traditionen eingehen. Tai Ji Men folgt seit seinem Ursprung den drei Hauptprinzipien des nicht – religiösen Taoismus: Wuwei („Nichthandeln“), Ziran („natürlich sein“, „der Natur folgen“) und Fanben („Rückkehr zur Wurzel“). Der religiöse Taoismus dagegen beinhaltet theologische Annahmen, Heilige, Gottheiten und komplizierte Rituale. Die Praktiken des Tai Ji Men gründen auf dem Versuch in eine völlige körperliche und geistige Entspannung einzutreten, um die durch die eigene Lebensgeschichte erworbenen Erfahrungen und Konditionierungen abzulegen. Dieser Eintritt in den angestrebten meditativen Zustand wird als „Stehübung im leeren Kreis (shifang wuji dang) genannt, wobei der leere Kreis die grenzenlose Realität symbolisiert. Der Lehrer schafft nun im umgebenden Raum ein Feld von kondensiertem Chi, das im Schüler Bewegungen aufkommen lässt. Die zuerst auftauchenden Bewegungen haben mit den individuellen körperlichen und seelischen Schwachstellen des Schülers zu tun, im Verständnis des Tai Ji Men versucht das Chi die vorhandenen Blockierungen zu lösen - dieser Prozess kann allerdings auch mit Schmerzen verbunden sein, da chronische Erkrankungen, z.B. Entzündungen, reaktiviert werden und eine akute Phase übergeleitet werden. Im Westen kennt man diesen Vorgang als so genannte „Erstverschlimmerung“ in der traditionellen medizinischen Natur- und Erfahrungsheilkunde. Wenn sich seit vielen Jahren intensiver Stress im Körper niedergeschlagen hat kann es zum „Symptom des faulen Bären“ kommen, d.h. der Körper kann – im Extremfall über Monate – ein ungeheures Schlafbedürfnis entwickeln, dem nachgegeben werden sollte. Ist das Energiefeld des Übenden von fast allen Störfaktoren befreit, beginnen scheinbar aus dem Nichts entstehende Bewegungsformen sich zu entfalten. Wie von Magneten geführt gehen zunächst Hände und Arme, später der gesamte Körper in fließende Formübungen über: Das Chi wird nun zum Lehrer, keine Lehre oder Übertragung von außen ist nun für den Weg zur Erfahrung mehr notwendig... In jahrelanger Disziplin in dem rituellen „Eintreten in den Kreis“ können neun verschiedene Ebenen der Erfahrung der Energie durchschritten werden, jede Stufe geht einher mit der Erfahrung eines Geheimnisses, durch dessen Mitteilung die weiter fortgeschrittenen Schüler das Vorankommen des Jüngeren erfassen können. Das Befreiende und Beeindruckende in dieser Tradition ist, das der Schüler -  auf sich allein gestellt – im günstigen Fall den gesamten Weg nach nur einmaliger Begegnung mit dem Stammhalter und der Übertragung des Samens (Zhongzhe) autonom vollziehen kann. Diese Tradition wurde derart geheim gehalten, das der jeweilige Stammhalter manchmal nur einen einzigen Schüler unterrichtete oder oft erst im hohen Alter seinen Nachfolger ernannte. Als einzige der fünf Geheimschulen des nicht religiösen Taoismus trat sie Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durch ihren gegenwärtigen Stammhalter Fangfu, im bürgerlichen Leben der in Asien berühmte TCM Arzt, Chi – Mediziner und Kampfkünstler  Prof. Lu Jin Chuan, an die Öffentlichkeit. In der Bevölkerung der Volksrepublik trägt er die beiden Namen „Die letzte Tür vor dem Tod“ und „Der Unbezwingbare“. Sein besonderes Anliegen ist es heute, die Chi – Medizin im Westen zu etablieren.

Die zweithöchste philosophische Schule des Taoismus ist Dandingmen, oft auch die Schule der inneren Alchemie genannt. Sie stammt von der so genannten äußeren Alchemie ab und hat weitgehend deren Begrifflichkeit übernommen. I
hre Übungspraxis konzentriert sich auf Atmungstechniken und geistiger Konzentration – auch hier sind neun Stufen der Erfahrung zu durchschreiten. Während im Tai Ji Men der Schüler sich der intentionslosen Hingabe an der Erfahrung des Chi widmet und in einen immer vollkommeneren Zustand der Absichtslosigkeit, dem wuwei, gelangt, wird im Dandingmen der Fluss der Energie kontrolliert und gelenkt. Das Ziel ist die so genannte Unsterblichkeitspille der neunfachen Umwandlung, die nicht in einer materialisierten Form zu verstehen ist, sondern den ursprünglichen Geist (yuanshen) symbolisiert. Die konkreten Meditationstechniken sind seit dem 14. Jahrhundert Ursache von Missverständnissen, Spekulationen und Verfälschungen, da die Techniken geheim gehalten worden und dies bezüglich der inneren Alchemie auch heute noch gilt. Die Überlieferung erfolgt in Geheimsprache und Geheimformeln. Einige Aspekte der äußeren Alchemie sind seit wenigen Jahrzehnten als die Meditation des „Kleinen Kreislaufs“ oder „Embryonalen Kreislaufs“ in oft stark veränderter, dem europäischem Verständnis angeglichener Form bekannt geworden. In dieser Tradition, die auch „Schule des Dreifußes zur Erlangung der Unsterblichkeitspille“ genannt wird ist eine absolute Kontrolle der Körperfunktionen unerlässlich. Auf manchen Stufen wie dem „Anfachen des Feuers“ oder beim „Kontrollieren der Temperatur“ ist zur Vermeidung von lebensbedrohlichen Zuständen das Eingreifen des Lehrers notwendig. Der Dreifuß steht hier metaphorisch für das Gefäß, in dem die erwähnte „Pille“ erwärmt wird – ist die Temperatur zu niedrig, kann diese Substanz nicht hergestellt werden, ist er zu heiß, verdampft sie. Die Hitze symbolisiert die Mobilisierung und Lenkung der Körperenergien. Kubilai, der Enkel von Dschingis Chan, ernannte Dandingmen zur Staatsreligion im dreizehntem Jahrhundert. Dieser Akt führte zur Spaltung der Schule in eine religiöse, mit dem Zölibat verbundene Richtung und dem traditionellem Dandingmen, das als Geheimschule weiterexistiert.  

Zusammen mit Tai Ji Men und Dandingmen bildet Jianxianmen (die Schule der Unsterblichen des Schwertes), auch „Schwertschule“ genannt, die dritte Geheimschule. Wie in der Schule der inneren Alchemie beginnt man auch hier mit Atemtechniken und geistiger Konzentration, der Schwerpunkt liegt auf der Materialisation des Chi. Bei den drei ersten Stufen der Praktiken wird das Chi zum „Schwert“ (eine Metapher für längliches, schmal erfahrbares Chi) geformt. In den mittleren drei Stufen beginnt der Schüler, diese Energie in der Heilkunde und in der Kampfkunst zu erproben. Die letzten drei Stufen sind der Rückkehr zum wu, dem ursprünglichem Nichts, gewidmet, das endgültige Ziel ist das Erlangen der Vereinigung von Chi und Geist (Shen). Jianxianmen besteht aus vier verschiedenen Schulen der Anwendung, die zwei ältesten Richtungen sind seit Jahrhunderten in Tai Ji Men aufgegangen. Aus diesem Grunde beinhaltet der Zhongzhe des Stammhalters von Tai Ji Men heute auch die Übertragung von Informationen des Jianxianmen.      

Fulumen und Xuanzhenmen  

Diese beiden philosophischen Schulen werden bereits als quasireligiös angesehen. Fulumen, „Die Schule der Zaubersprüche und Zauberzeichen“ ist die älteste Tradition des Taoismus. Sie ist zusammen mit dem Aufkommen schamanistischer Techniken vor ca. 5000 Jahren entstanden. Das alte Zeichen für Medizin, yi, hat wu, Schamanin, als Sinn gebendes Radikal. Fulumen steht für die Anwendung von Chi und geistiger Kraft in der äußeren Form von Zaubersprüchen und rituellen Tanzschritten, die aber nur dazu dienen, das Chi zu konzentrieren. Da das Chi zur Heilung im Sinne einer Volksmedizin eingesetzt wird, sind die äußeren Techniken in der normalen Bevölkerung Chinas geachtet und weit verbreitet. Allerdings sind Fulumen und Xuanzhenmen in der schamanistischen Praxis religiös eingefärbt und besitzen teilweise missionarische Züge. Xuanzhenmen, die „Schule des Unergründlichen Wahren“, ist ca. 200 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung entstanden. Gleichwohl in der Theorie ein starker Bezug auf dem Verständnis der Taoteking vorhanden ist, dient die Praxis der Kultivierung von so genannten „Wundertechniken“ (fashu), um ähnlich wie im Dandingmen die Unsterblichkeitspille zu finden. Die mit der Erfahrung und Kultivierung des Chi sich entwickelnden metanormalen Formen der Wahrnehmung werden z.B. im Bereich der Heil- und Kampfkunst, dem feng shui und der Orakelkunst eingesetzt. Beide Schulen werden wegen ihrer Anwendungspraktiken deutlich niedriger als die ersten drei genannten eingestuft.

Erkrankung, Wiederkehr und Zusammenbruch   
Geschichte vom Buchhändler...  
Die Öffnung der Geheimschule  

Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts öffnete der derzeitige Stammhalter der höchsten philosophischen Schule des Taoismus, Prof. Lu Jinchuan, die bis zu diesem Zeitpunkt als Geheimschule sagenumwobende Tradition des Tai Ji Men für eine bgrenzte Zahl von akademischen Schülern, insbesondere Medizinern. Jinchuan befürchtete – und tut dies gegenwärtig noch – das die rapiden Umwälzungen in der VR China in eine zweite Kulturrevolution führen könnten – bei der ersten wurden viele Schulen zerstört, Großmeister und ihre Schüler inhaftiert und für immer verschwunden. Tatsächlich bestand die Gefahr, das ganze Traditionslinien verloren gehen könnten. Auf der anderen Seite führte die fast unheimlich anmutende Verbreitung von Qigong in verschiedensten Stilen von selbsternannten „Meistern“ zu einer in vielen Fällen absurden, ja gefährlichen Verbreitung von Wundertechniken, den fashus.
Wie der deutsche Sinologe Prof. Manfred Kubny in einem Vortrag so schön zugespitzt formulierte: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen aber neuerdings fliegen jeden Monat tausende mit dem Flugzeug in den Westen ein“.
In China herrschte in den achtziger Jahren das so genannte „Qigong-Fieber“ - Millionen einfache Bürger suchten nach metanormalen Fähigkeiten und Langlebigkeit oder sogar Unsterblichkeit. Da in China Bücher unglaublich preiswert sind, gab es Publikationen, die innerhalb eines Monats Millionenauflagen vorweisen konnten. Diese schnelle Verbreitung der Techniken hatte aber noch ganz andere Gründe: tausende Menschen kamen in Grünanlagen zusammen, konnten dort praktizierend relativ frei miteinander kommunizieren ohne die große, damals und zum Teil auch gegenwärtige Angst vor Polizei- oder Kaderspitzeln zu haben. Ein weiterer Grund war die für die chinesische Bevölkerung ungewöhnliche Situation, das beide Geschlechter an diesen spontanen Massenritualen teilnehmen konnten, ja die Anzahl der weiblichen Praktizierenden war sogar deutlich höher als die der männlichen. Tausende von selbsternannten „Eingeweihten“, „Meistern“, „Großmeistern“ mixsten buddhistische, lamaistische und taoistische Techniken zu „Wunderübungen“, die tatsächlich bei einem nicht geringem Teil der Praktizierenden seltsame Visionen und ungewöhnliche Erfahrungen hervorbrachten.
Gerade dieser Umstand, der dem konsequent materialistischem Weltbild der herrschenden Partei widersprach und die reine Lehre der kommunistischen Partei in Frage stellte, sollte auf Grund der nicht mehr kontrollierenden Verbreitung des Qigong eine konsequente politische Gegenreaktion erzeugen. Mit anderen Faktoren zusammenwirkend führte die Überzeugung vieler gebildeter Chinesen, zum ersten Mal unter scheinbar anderen Umständen einen studentischen Aufstand zu wagen, zu dem in aller Welt wahrgenommenen Protesten am Tianmen Platz (dem Platz des himmlischen Friedens) im Jahre 1989, der mit einem Massaker blutig niedergeschlagen wurde. Der ausschlaggebende Einfluss auf Jinchuan aber war der schriftlich fixierte Auftrag des ihm zwei Generationen vorhergegangenen Stammhalters an seinen geistigen Enkel, „das Tor (Men) zu öffnen und den Weg zu bereiten“. Fangfu sah es nun als die richtige Zeit an.   
 
Die spontanen Bewegungen des Tai Ji Men  

Das vegetative Nervensystem (Bild: Bahnen aus „Orgontherapie“)

Wir sind eingebunden in unzählige äußere Pulsationen, Tages- und Jahreszeiten, kosmische Einflüsse etc. Unser vegetatives Nervensystem empfängt nun all diese Einflüsse und reagiert - zumeist unbewusst - darauf und reguliert die Pulsationen innerhalb unseres Körpers abgestimmt auf die äußeren Erfordernisse.   Alleine innerhalb des menschlichen Körpers sind inzwischen 55 verschiedene Pulsationen identifiziert worden, z.B. Herzschlag, Atmung, Darmtätigkeit und Schlaf-/Wachrhythmus - schlichtweg alles im menschlichen Organismus pulsiert.   Das vegetative Nervensystem ist also Schnittstelle zwischen Pulsationen der Außenwelt und der Innenwelt. Es ist auch Vermittler zwischen den Gefühlen einerseits und der Tätigkeit aller inneren Organe andererseits, denn es regelt die Tätigkeit aller inneren Organe und es regelt Blut-, Lymph- und Plasmaströmungen, die den Gefühlen zugrunde liegen. Es ist auch über die Verschaltungen des Zentralen Nervensystems mit den für Gefühlsempfinden verantwortlichen Hirnzentren verbunden. Wir sehen Seele und Körper also nicht als voneinander abgekoppelte Systeme, sondern als eine funktionelle Einheit, der die vegetative Pulsation  als einheitliches Funktionsprinzip zugrunde liegt. Ziel der Energetischen Medizin ist es primär, die Schwinging des vegetativen Nervensystems wieder anzuregen und damit sowohl körperlichen wie auch psychischen Erkrankungen zu beeinflussen. Wir arbeiten also nicht auf der Ebene der Krankheitssymptome, sondern auf der darunter liegenden Ebene der energetischen Pulsationsvorgänge.  

Aufgrund der großen Bedeutung des vegetativen Nervensystems möchte ich an dieser Stelle etwas näher auf seinen Aufbau und seine Funktionen eingehen, d.h. auf seine Bedeutung für Gesundheit und Krankheit:  

Das vegetative Nervensystem ist ein Teil des Gesamtnervensystems des Menschen. Dieses gliedert sich im Wesentlichen in drei Teile, deren Funktionen eng miteinander verknüpft sind.  

Ein Teil regelt die Tätigkeit der willkürlichen Motorik, der Reaktion des Muskelsystems auf verschiedene Umwelteinflüsse; dieser Teil wird motorisches Nervensystem genannt.   Ein anderer Teil verarbeitet die Informationen aus den Sinnesorganen, wie z.B. Auge, Nase, Tastsinn, zu bewussten Empfindungen. Dies ist das sensorische Nervensystem.  

Ein dritter Anteil des Nervensystems, mit dem wir uns hier eingehender beschäftigen werden, dient dazu, speziell die Funktionen innerer Organe aufeinander abzustimmen. Dieser Teil des Gesamtnervensystems wird als vegetatives Nervensystem bezeichnet. Es umfasst die Nerven, die Muskulatur der inneren Organe, das Herz und die Drüsen versorgen. Die Regelkreise dieses vegetativen Nervensystems sind eng mit denen der beiden anderen Anteile vernetzt, es gibt daher zahlreiche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Systemen.  

Innerhalb des vegetativen Nervensystems lassen sich zwei gegensätzlich wirkende Teilstrukturen voneinander abgrenzen, die man als Sympathikus und Parasympathikus bezeichnet. Diese beiden Strukturen ziehen zu den inneren Organen und regulieren deren Tätigkeit, d.h. sie regen sie an oder hemmen sie. In Rückenmark und Hirnstamm haben Sympathikus und Parasympathikus unterschiedliche Ursprungsorte, und sie unterscheiden sich auch in den von ihnen verwendeten biochemischen Überträgersubstanzen. Das vegetative Nervensystem ist der willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen und wird daher auch als autonomes Nervensystem bezeichnet. So können wir die Tätigkeit der inneren Organe nicht willentlich steuern, also nicht zum Beispiel willkürlich das Herz schneller oder langsamer schlagen lassen. Sympathikus und Parasympathikus unterliegen denselben übergeordneten Funktionsprinzipien, nämlich denen des vegetativen Nervensystems. Sie sind daher,  “funktionell identisch”. Am Organ selber haben sie jedoch eine gegensätzliche oder antagonistische Wirkung.

Die meisten inneren Organe werden sowohl vom Sympathikus als auch vom Parasympathikus innerviert. Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems sind zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig aktiv, jedoch in unterschiedlichem Maße. Das Überwiegen des einen Teiles kann eine Organtätigkeit hemmen, das Überwiegen des anderen Teils die Tätigkeit des gleichen Organs verstärken. Es können also bezogen auf ein bestimmtes Organ niemals gleichzeitig Sympathikus und Parasympathikus maximal tätig sein, sondern die Tätigkeit des einen überwiegt auf Kosten des anderen, d.h. es steht jeweils der bezogen auf dieses Organ erregende oder der hemmende Anteil des vegetativen Nervensystems im Vordergrund. Der Funktionszustand ist abhängig von der Balance der Aktivitäten von Sympathikus und Parasympathikus.

Sehen wir uns die Tätigkeit des vegetativen Nervensystems bezogen auf die Muskulatur verschiedener innerer Organe etwas genauer an. Die Wirkung des Sympathikus auf den Herzmuskel ist z. B eine erhöhte Herzfrequenz, während ein Überwiegen des Parasympathikuseinflusses eine erniedrigte Herzfrequenz zur Folge hat. Nun gibt es aber nicht nur die Option "Herzrasen" oder "Herzstillstand". Je nach Überwiegen des einen oder anderen Einflusses wird der Herzschlag schneller oder langsamer - die Impulse von beiden Anteilen werden gegeneinander verrechnet.  

Am Darm führt eine Reizung des Parasympathikus zu verstärkter Bewegung der Darmmuskeln, eine Reizung des Sympathikus dagegen unterdrückt die Darmbewegung. An der Bronchialmuskulatur führt die Aktivität des Parasympathikus zu einer Anspannung der Bronchialmuskeln, während der Sympathikus eine Entspannung herbeiführt. Am Auge führt Reizung des Sympathikus zu einer Erweiterung der Pupille über die Aktivierung des dafür zuständigen Augenmuskels, Reizung des Parasympathikus zu einer engen Pupille.  

Bisher haben wir die Wirkungsweise des vegetativen Nervensystems auf einzelne Organe besprochen. Man kann jedoch auch auf den Gesamtorganismus bezogen von einer sympathikotonen oder parasympathikotonen Reaktionslage sprechen. Dabei werden die Organe nicht gesondert, sondern in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sie werden je nach Bedürfnis des Organismus im Dienst einer bestimmten Leistung aktiviert. Bei äußerem Stress zum Beispiel schaltet der Körper auf "Abwehrverhalten", bei dem der Sympathikus maximal aktiviert wird. Die Atmung wird gesteigert, die Pupillen sind erweitert, bei Tieren sieht man noch die gesträubten Nackenhaare. Der Blutdruck, die Muskeldurchblutung und die Herzfrequenz nehmen zu, während die Darmdurchblutung und Darmbeweglichkeit sowie die Hautdurchblutung abnehmen. Die Aufmerksamkeit ist dabei ganz auf außen konzentriert. Durch den äußeren Reiz schaltet der ganze Organismus auf einen Zustand, in dem er alle Energien innen sammelt, um sich auf Angriff oder Flucht vorzubereiten (deshalb auch "flight- or-fight reaction” genannt). Der Organismus kontrahiert sich und ist im Zustand der Spannung. Ein Beispiel dafür ist, wenn jemand Streit mit seinem Chef hat oder eine Prüfung bevorsteht. In solch einer Situation ist der Sympathikus maximal aktiviert.  

Im Kontrast zum Abwehrverhalten steht das "Fressverhalten". Nach Nahrungsaufnahme - wir alle kennen das nach einem üppigen Mahl - wird der Parasympathikus stärker erregt. Die Aufmerksamkeit wird von der Umgebung abgezogen, wir werden schläfrig, die Darmtätigkeit wird angeregt, der Bauchraum mit den Verdauungsorganen stärker durchblutet. Die Durchblutung der Skelettmuskeln geht dabei zurück, der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer und am Auge sieht man eine Verengung der Pupillen. Der Organismus zieht sich hier nicht zusammen, sondern erweitert sich, dehnt sich energetisch nach außen aus, und befindet sich im Zustand der Entspannung. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit eher nach innen gerichtet. Die beiden Systeme von Sympathikus und Parasympathikus sind daher funktionell nicht zu trennen, sie stehen in ständiger Wechselwirkung. Erst ihr Zusammenspiel ermöglicht eine harmonische Funktion des Gesamtorganismus. "Der Lebensprozess spielt sich in stetem Wechsel von Expansion und Kontraktion ab" - dies ist Pulsation, ein differenziertes, koordiniertes Hin- und Herschwingen zwischen den beiden Polen der vegetativen Extreme, die Grundfunktion des Lebendigen. Diese Pulsation bestimmt auch das hormonelle und emotionale Befinden des Körpers. Die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus hat über die Verengung und Erweiterung der Blutgefäße großen Einfluss auf die Flüssigkeits- oder Plasmabewegungen im Körper, welche die Grundlage für das Empfinden von Emotionen sind.  

Wird der biologische Schwingungszustand in der einen oder anderen Richtung gestört, überwiegt die Expansions- oder die Kontraktionsfunktion, dann muß eine Störung des allgemeinen biologischen Gleichgewichtes zustande kommen. Ein Verharren im Zustande der Expansion ist gleichbedeutend mit Vagotonie (=Parasympathikotonie, d. Verf.), Verharren im Zustand angstvoller Kontraktion mit Sympathikotonie. Das Gleichgewicht zwischen beiden Zuständen wird als "Homöostase" bezeichnet.

Gesundheit wird daher nicht als Abwesenheit von Symptomen, Krankheiten oder Einschränkungen definiert, sondern als Fähigkeit des Lebewesens zur lebendigen, rhythmischen Pulsation im vegetativen Nervensystem. Beide Zustände - Anspannung und Entspannung, Ladung und Entladung - sind an sich zu bestimmtem Tages- oder Lebenszeiten mehr oder weniger notwendig. Der gesunde Organismus sollte je nach den Erfordernissen zwischen dem auf die Außenwelt konzentrierten Zustand des Sympathikus und dem entspannten, nach innen orientierten Zustand des Parasympathikus hin- und herschwingen können. Er soll sich auch je nach Erfordernissen der Außenwelt energetisch auf- oder entladen können.
 

Im siebenten Jahrhundert, als Fa-tsang, der Gründer der Hua-yen Schule, am Kaiserhofe Vorlesungen gab, sah er sich der Schwierigkeit gegenüber, die Theorie der gegenseitigen Durchdringung und der Einheit von Erscheinung und Wirklichkeit zu erklären. Fa-tsang zeigte auf einen goldenen Löwen in der Halle und trug seine berühmte Parabel vor. Das Gold symbolisiert die Wirklichkeit, und der Löwe symbolisiert die Erscheinung. Wirklichkeit selbst ist formlos, aber sie nimmt jede Form an, die die Umstände ihr geben. Ähnlich hat Gold "kein Bestehen an sich", sondern ist zur Form des Löwen als seine Erscheinung geformt. Andererseits ist der Löwe nur eine Form, nur eine Erscheinung, die keine Wirklichkeit an sich hat - sie ist ganz und gar Gold. Wenn das Gold den Löwen vollkommen aufnimmt, dann hat der Löwe keine Existenz als getrennte Wesenheit. Die Existenz des Löwen hängt vollkommen von der Existenz des Goldes ab. Ohne Gold gebe es keinen Löwen. Das heißt mit anderen Worten, ohne Wirklichkeit existiert keine Erscheinung. Andererseits jedoch stellt der Löwe die Erscheinung des Goldes dar. Ohne die Form des Löwen gäbe es keinen Ausdruck des Goldes. Erscheinung erweist die Existenz der Wirklichkeit. Das Gold und der Löwe koexistieren harmonisch; sie sind miteinander vereint, aber das hält keines von beiden irgendwie davon ab, es selbst zu sein. Jedes ist vollständig und genügend für sich und an sich. Das Gold und der Löwe bleiben in sich verschieden. Sieht man auf den Löwen, so sieht man ihn als Löwen; der Löwe ist offensichtlich, das Gold tritt zurück. Sieht man das Gold, so ist dieses offensichtlich, und der Löwe wird unserem Blick verschleiert. Manchmal sieht man beides; manchmal sieht man auch keines von beiden. (zitiert nach: Chang Chung-yuan, Tao, Zen und schöpferische Kraft, Diederichs gelbe Reihe, Köln 1983, S.87 ff.)

Zum Autor:  

Heiko Lassek ist niedergelassener Arzt mit Privatraxis in Berlin. Er ist Leiter des Wilhelm Reich Instituts und seit 1886 erster Vorsitzender der "Wilhelm Reich Gesellschaft zur Erforschung lebensenergetischer Prozesse e.V." in der Ärzte, Psychologen und Professoren versChiedenster Fachrichtungen sich mit der Untersuchung westlicher Konzepte von Lebensenergie seit 1986 beschäftigen. Internationale Lehr- und Vortragstätigkeit seit; zahlreiche Fachveröffentlichungen, Autor und Herausgeber mehrerer Bücher.